Am Boden

„Strassenfeger“ Der Chefredakteur der Obdachlosenzeitung beklagt sich über die osteuropäischen Migranten unter seinen Verkäufern
Ausgabe 25/2015

In der Berliner Zeitung habe ich neulich von Andreas Düllick gelesen. Der nichtobdachlose Chefredakteur des Berliner Strassenfegers beklagte sich über die osteuropäischen Migranten unter seinen Verkäufern. Düllick wurde zitiert mit den Worten: „Betrugsversuche und aggressives Betteln werden registriert und geahndet.“

Eigentlich dürfte ich gar nicht über dieses Thema schreiben. Ich war sechs Jahre lang Redakteur des Strassenfegers, lange Zeit auch der einzige, Chefredakteur habe ich mich nicht genannt. Von den Verkäufern war ich basisdemokratisch gewählt worden und habe bis zu meinem Abschied im Jahr 2000 eine wunderbare, wenn auch anstrengende Zeit erlebt. So haben wir gemeinsam eine Bettelakademie gegründet; gut 40 Journalisten und drei Berufspolitiker haben bei uns einen Tag lang in Unterrichtsfächern wie „Sitzung halten“, „Kirchenstrich“ oder „Containern“ reüssiert, unter professioneller Anleitung. Die jeweiligen Artikel der Journalisten nahmen wir dann in die nächste Ausgabe mit rein und stellten sie dem Bericht des „Dozenten“ gegenüber.

Gut, es hat immer Stress und Zank gegeben und auch immer Leute, die sich nicht an Regeln hielten. Es kam sogar vor, dass in der offenen Redaktionssitzung die Töle eines Verkäufers nach mir schnappte. Und eines Tages saß die NPD bei uns am Tisch: ein gesetzter älterer Herr, der eine Spende von 100 Mark abgeben wollte. Es kostete mich alle Kraft, diesen Mann, der darauf bestand, Mitglied einer demokratischen Partei zu sein, gegen den mehrheitlichen Willen der Verkäufer zum Teufel zu schicken. Aber nie, wirklich nie wäre ich auf die Idee gekommen, mich in der Öffentlichkeit von den eigenen Leuten zu distanzieren! „Betrugsversuche und aggressives Betteln“ sollen jetzt geahndet werden. Tatsächlich. Warum eigentlich nicht beim „Chefredakteur“? Andreas Düllick bettelt doch in jeder Ausgabe. Unter seiner Ägide findet sich auf der Rückseite des Strassenfegers seit vielen Jahren ein auszufüllender Spendencoupon. Wofür genau das Geld gebraucht wird, erfährt der Leser nicht. Auf dem Foto lächelt irgendein Mensch und hält sich die geöffnete Klemmmappe übers Haupt. „Ein Dach überm Kopf“ heißt die Spendenkampagne. Und weiter unten: „Um obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen wirksam helfen zu können, (…) brauchen wir dringend Hilfe!“

Verkäufer, die mich noch kennen, haben mir erzählt, dass der Strassenfeger seit anderthalb Jahren kein Notübernachtungsprojekt mehr hat. Das ist bitter. Ich hab sie gefragt, was denn nun passiert mit den vielen Daueraufträgen von Leuten, die jeden Monat für Unbehauste spenden. Wird das Geld zurücküberwiesen? Man weiß es nicht.

Ich denke nicht, dass der Strassenfeger jemals ökonomisch gearbeitet hat. Jedenfalls nicht im kapitalistischen Sinne. Oikos steht im Griechischen für das Haus. Ökonomie schloss ursprünglich ein riesiges Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen mit ein. Wenn die Bäuerin heute sagt, sie hat eine Wirtschaft zu versorgen, meint sie nicht nur den Acker und die Tiere, sondern auch ihre Familie. Bei einem Industriearbeiter oder einer Bankangestellten sieht das völlig anders aus; die Trennung von Arbeits- und Lebenswelt ist der Normalfall. Nur eben nicht bei Obdachlosenzeitungen. Umso bedenklicher erscheint mir, dass die Verkäufer inzwischen weniger Rechte haben als ein Arbeitnehmer bei Siemens. Aber das alles geht mich wohl nichts mehr an.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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