Am Drehkreuz

Von Palästina nach Palästina Erlebnisbericht über eine kurze Fahrt durch die besetzten Gebiete, die zum langen Marsch wird

"Mama, weißt du, wie sehr ich dich liebe? So groß wie Amerika", verkündet mir Luai, kaum dass ich ihn in Nablus getroffen habe. Selbst mein vierjähriger Sohn kennt schon die Macht der Vereinigten Staaten.

Cinderella und Schneewittchen

Das war vergangenen Mittwoch. Gegen Mittag an diesem Tag haben mich die Israelis informiert, ich dürfe für einen Tag von Gaza-Stadt aus in die Westbank fahren - dort solle ich mir dann die Erlaubnis besorgen, wieder nach Gaza zurückzukehren. Ich nehme das Wagnis auf mich, da ich meine Familie treffen und meinen Sohn Luai mit nach Gaza nehmen will.

Um 14.15 Uhr an diesem Oktobertag erreiche ich den Übergang Erez, um gegen 17.15 Uhr in Ramallah einzutreffen und eine Stunde später die Stadt mit meinem Mann Adi in Richtung Nablus zu verlassen. Noch vor drei oder vier Jahren dauerte diese Fahrt 45 Minuten, nun aber hält uns unterwegs ein "fliegender Checkpoint" auf, quasi ein beweglicher Kontrollpunkt, was alles in allem eine Wartezeit von 40 Minuten mit sich bringt. Noch ein relativ geringer Zeitverlust, so dass wir gegen 19.45 Uhr den nächsten Kontrollpunkt erreichen: Hawara im Süden von Nablus. Natürlich müssen wir aus dem Auto steigen und die etwa 800 Meter bis zur anderen Seite des Checkpoints laufen. Eine zügige Passage - wir werden weder durchsucht noch will jemand unsere Pässe sehen. Nur auf der anderen Seite sehen wir Hunderte von Menschen, die darauf warten, Nablus verlassen zu dürfen. Ein Mann erzählt uns, sie würden seit zwölf Uhr mittags dort stehen, seit acht Stunden inzwischen. "Für alle, die aus der Stadt raus wollen, ist der Checkpoint dicht", sagt er, "offenbar proben sie für die Zeit des Ramadans". Ich bin nur glücklich, in Nablus angekommen zu sein und meine Familie zu treffen, besonders meinen Sohn.

Am nächsten Tag heißt es, ich solle meinen Passierschein in Ramallah abholen, um nach Gaza zurückkehren zu können. So bin ich gegen zwölf Uhr mittags wieder am Hawara-Checkpoint, zusammen mit meinem Sohn, meinem Mann und einigem Gepäck, für das wir einen Wagen brauchen. In den Checkpoint mitnehmen können wir die Sachen nicht, da Fußgängern dort nur wenig Raum zur Verfügung steht. Vor uns warten zwölf Fahrzeuge - jede halbe Stunde verlässt eines den Kontrollpunkt. Die israelischen Soldaten entschuldigen sich für das stundenlange Warten, ihr Röntgenapparat sei ausgefallen, sie müssten deshalb jedes Auto "per Hand" untersuchen. Auch in der Fußgängerzone des Kontrollpunkts warten bereits Hunderte von Menschen - Männer und Frauen stehen selbstverständlich in getrennten Schlangen an. Mein Sohn versucht seit drei Stunden einzuschlafen, es gelingt ihm nicht, da er wie alle Kinder nur schlummert, wenn das Auto sich bewegt. Also lese ich ihm während des Wartens Cinderella, Schneewittchen und Die schlafende Schöne vor. Er quengelt die ganze Zeit und fragt mich: "Warum geht es nicht weiter? Warum hasst uns die israelische Armee?"

Gegen 15 Uhr ist die Frauen-Schlange deutlich kürzer geworden, also schlägt mir mein Mann vor: Geh mit Luai zu Fuß und nimm dir auf der anderen Seite ein Taxi.

Wenn in Gaza diese getrennten Schlangen irgendwo auftauchen, stelle ich mich aus Prinzip bei den Männern an - an diesem Tag aber bin ich zum ersten Mal in meinem Leben froh, dass wir solche Bräuche haben und die Israelis sie respektieren. Ich gehe mit den Frauen, nach zehn Minuten ist es überstanden. Gegen 17 Uhr erreiche ich glücklich Ramallah, mein Mann anderthalb Stunden später. Wir sind alle erschöpft und gehen früh zu Bett.

Kalandia-Checkpoint

Am nächsten Morgen kann ich den nötigen Passierschein für die Weiterreise zunächst nicht abholen: Wegen des jüdischen Neujahrsfestes hat man die palästinensischen Gebiete abgesperrt. Ich gehe wieder nach Hause und bereite mich auf eine lange Aussperrung vor. Gegen elf Uhr heißt es, mein Passierschein liege vor, und ich solle mich nach Beit El, einem israelischen Militärposten nahe Ramallah, begeben. Dort erhalte ich tatsächlich das vorgeschriebene Dokument, gültig bis 19 Uhr am gleichen Tag.

So verlasse ich Ramallah gegen Mittag und bin kaum 15 Minuten später am Kontrollpunkt Kalandia. Wieder die gleiche Prozedur: das Auto verlassen, durch den Checkpoint laufen, Papiere zeigen. Nachdem wir ein Drehkreuz passiert haben - auf arabisch heißt das Hallabat und bezieht sich auf eine Konstruktion, die man auf Farmen nutzt, um Kühe, eine nach der anderen, zu melken -, sagt ein israelischer Posten, der in einer Glaskabine sitzt: Der Gaza-Streifen sei abgeriegelt, wir dürfen nicht durch. Ich versuche, ihm zu erklären, meinen Passierschein erst heute bekommen zu haben, als die Absperrung schon im Gange gewesen sei. Er hört mir nicht zu, und mein Schein interessiert ihn auch nicht.

Der Kalandia-Checkpoint gleicht einer internationalen Grenze, mit Röntgenapparaten, Barrieren und Soldaten hinter kugelsicheren Scheiben. Man darf ihn nur einer nach dem anderen passieren. Was bleibt mir anderes übrig, als die Kontaktstelle anzurufen, deren Nummer auf meinem Passierschein steht. Vom anderen Ende der Leitung bekomme ich zu hören: Ich solle warten, man wolle die Besatzung des Checkpoints anweisen, mich durchzulassen.

Pass und Passierschein

Kurz darauf bedeutet mir ein Israeli, durch das Drehkreuz zu gehen. Doch genau in diesem Augenblick, als ich mit Luai in der Tür stehe, ändert er seine Meinung: "Gaza nein. Gehen Sie zurück!" Er telefoniert und ruft plötzlich: "Legen Sie Pass und Passierschein an die Scheibe". Dann endlich darf ich mit meinem Sohn hindurch.

Fährt man aus Gaza in die Westbank oder in der Westbank von einer Stadt in die andere, hat man für nichts anderes Zeit, als die Checkpoints zu durchqueren und Telefonate zu führen, um sich den erforderlichen Passierschein für den Rückweg zu organisieren. Und glücklich darf sich schätzen, wer ein solches Dokument überhaupt erhält. Ich weiß nicht, was sollen die Palästinenser in ihrem Leben eigentlich hervorbringen, wenn man ihnen die Zeit, die sie dafür benötigen, nicht im geringsten zubilligt?

Lama Hourani ist Koordinatorin der Palestinian Working Women Society for Development (PWWSD) in Gaza, eine der ersten palästinensischen NGOs, und setzt sich für die Rechte der Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen ein.


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