Kanada Inuvik ist der letzte per Auto erreichbare Ort in der Arktis. Nun wirbt die Stadt mit gleich zwei Versprechen um ihre Einwohner – Geborgenheit und billigem Strom
Vom Flugzeug aus betrachtet, ist das eine einsame Welt. Lange sieht man nichts als das kalte Eisblau der Seen, die Schwingungen der Flüsse und das Weiß des Schnees, das sich wellt, wo der Wind hindurchstreicht. Erst beim Anflug wachsen die Häuser aus dem Boden, die Permafrost-Container, Stromleitungen und Wasserrohre, allesamt oberirdisch verlegt und Zeichen einer Zivilisation, die sich mit dem Nützlichen und Notwendigen bescheiden muss.
Hier will man nun bleiben. Nicht für immer, aber für Tage, die nächste Besiedlung ist weit entfernt, der nächste Flug von den Launen des Wetters abhängig. Man gibt sich den Sonnenstrahlen hin, die hell, aber mehr als kraftlos sind. Wie krank hängt der Sonnenball irgendwo zwischen Horizont und Hausdächer
ächern. Kaum verkriecht sich der letzte, der allerletzte Schatten des Nachtgrauens, rückt es von einer anderen Seite schon wieder heran, und man ahnt – es ist verloren, wer sich hier gleich wieder fortsehnt.Inuvik, das klingt wie aus dem poetischen Wortschatz früher Arktis-Expeditionen, nach Größenwahn und Untergang, nach Eroberung und eisernem Willen. Man tut gut daran, dem poetischen Klang nicht schon vor der Reise Bilder zuzuordnen, die später nicht zu halten sind. Nein, das ist kein Sehnsuchtsort. Inuvik nicht, die ganze Arktis nicht. Sicher, man kann sich sehnen nach dieser klaren Schönheit, den Silhouetten der Wälder, nach den Farben und der seltsamen Herrschsucht von Schnee und Eis. Kann trauern um die von menschlicher Unvernunft und klimatischem Wandel gefährdete, in ihrer Existenz bedrohte Landschaft, in der man sich zu jeder Zeit der Weite – im Winter der Kälte und im Sommer den Mücken – ergeben muss.Inuvik ist eine Stadt in der kanadischen Arktis, in den Northwest-Territories, die größte Siedlung nördlich der zwei Stunden Flug und mehr als 1.000 Kilometer entfernten Provinzstadt Yellowknife, nördlich des nördlichen Polarkreises. Nach dem Zensus von 1996 hat Inuvik 3.296 Bewohner, verteilt auf 2,5 Quadratkilometer. Der Name dieser Stadt bedeutet „Ort der Menschen“. Eine Übersetzung aus dem Inuktitut, der Sprache der Einwohner, die sich – aller politischen Korrektheit zum Trotz – Eskimos nennen. Nur die jüngere Generation besteht auf dem korrekten ethnischen Ausdruck: Inuvialuit.Fast wie GigolosInuviks 20- bis 30-jährige Inuvialuit unterscheiden sich vielleicht nicht von anderen Jugendlichen auf der Welt. Doch wo andere mit ihren Autos über die Straßen heizen, tun die Inuvialuit mit ihren Schneemobilen so, als gäbe es kein Morgen. Sie sind lässig und draufgängerisch, ein bisschen wie italienische Gigolos. Als Besucher fragt man sich unwillkürlich, ob es wohl ein Verkehrssünder-Register auch für Schneemobil-Rowdys gibt. Über dieses Geheize kann man sich ärgern oder es auch lassen, denn Inuviks Jugend hat nicht viel mehr als diese rasenden Fahrten. Diskothek? Fehlanzeige. Pub und Kneipe? Ebenfalls. Auch all die anderen Vergnügen, die man in der zivilisierten Welt für unerlässlich hält, die des Konsums und der Lebensleichtigkeit in Fitness- oder Wellness-Oasen, sind hier so abwegig wie eine Eisbahn in der Sahara.In Inuvik hat die Arktis längst begonnen. 68° 19’ 00” N 133° 29’ 00” ist die geografische Zuordnung, zwei Breitengrade über dem Polarkreis. In Inuvik endet Kanadas öffentliches Straßensystem. Auf dem Dempster Highway, der sich von Dawson City kommend 700 Kilometer durch einsame Wälder zieht, gibt es nur noch die Straße nach Inuvik hinein und um Inuvik herum. Ein Asphaltband von zehn Kilometern, vielleicht 14, berücksichtigt man die Gravelroads, die Staubstraßen der Stadt. Dafür lohnt es sich kaum, ein Auto zu haben, und doch besitzt in Inuvik fast jeder eines. Vielleicht fühlt man sich besser in dem Wissen, einfach einsteigen und davonfahren zu können.Noch vor 60 Jahren gab es in dieser Gegend nichts weiter als die unbewohnte Weite der Arktis. Kaum ein weißer Mensch – Trapper und Jäger vielleicht ausgenommen – hatte seinen Fuß auf die im Sommer schlammigen Wiesen im mückenverseuchten Tal des Mackenzie-Rivers gesetzt. 1957 wurde Inuvik gegründet, weil es in der bis dahin größten, 100 Kilometer entfernten Stadt Aklavik zu eng wurde. Für die ersten Bewohner Inuviks, zumeist nomadisierende Familien, baute man bunte Fertighäuschen und Lebensmittelläden. Man brachte ihnen bei, dass Jagen und Fischen minderwertige Verrichtungen seien, und gab ihnen andere Arbeit. Niemand dachte daran, was verloren geht, wenn traditionelles Wissen, das über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende weitergegeben wurde, plötzlich verzichtbar erscheint. Was verloren ist, wenn ein Inuvialuit das Eis nicht mehr lesen und das Ziehen der Wolken nicht mehr deuten kann.„Am Anfang war es verdammt schwer,“ sagt Hugh Grover, der auf den Stufen vor einem der wenigen Restaurants sitzt, wo er gern Touristen anspricht, um nach Geld zu fragen. Das sei nicht fein, das sei keine Eskimo-Art, gibt Grover zu, aber seine Pension reiche eben nie. Das Wort Pension spricht er aus, als sei es eine exotische Tierart. Grover ist einer der wenigen in Inuvik, die noch wissen, wie es einst war. Und das macht ihn zu einem weisen Gesprächspartner. Man würde ihn zu einem Kaffee einladen, gäbe es denn einen Ort, an dem man sitzen und schwadronieren kann. Aber der alte Herr winkt ab: Das sei sowieso nichts für ihn.Grover trägt Stiefel aus Seehundfell, solches Schuhwerk wurde früher von seiner Mutter mit der Hand genäht, erzählt er. Das sei in seiner Jugend gewesen, als er außerhalb Aklaviks aufwuchs, mit dem erdigen Geruch der Wälder in der Nase und einem untrüglichen Gespür für Richtungen. Jeden Tag sei er weit gelaufen, habe sich viele Kilometer vom Iglu entfernt. Niemals wäre seine Mutter auf die Idee gekommen, sich Sorgen um ihren Sohn zu machen. Das klingt nach idyllischer Jugend. Grover wiegt den Kopf hin und her, dann lacht er, ein Vorderzahn fehlt, außerdem hat Kautabak die Zähne verfärbt. Aber das Lachen erfasst sofort seine Augen. Winzige Fältchen bilden einen Kranz.„Nein, eine bessere Zeit sei das nicht unbedingt gewesen. „Hart und kalt war meine Kindheit, hart und kalt war meine Jugend“, sagt er. „Heute geht es allen besser.“ Dann besinnt er sich. „Viel, viel besser.“ Zum Beweis zeigt er seine braunen, von Runzeln wie von einer Lehmschicht überzogenen Hände. „Keine Risse. Keine Schwielen, absolut nicht.“Dem gewohnten Bild von einer Stadt trotzt Inuvik übrigens auf den ersten Blick. Wie hingestreut liegt der Ort, von einer Hauptstraße durchzogen, von der ein paar Seitenstraßen abgehen. Ein wenig Kleingewerbe zieht sich rings um den Stadtkern. Tischlereien und Autoschlossereien hauptsächlich, die hier in großer Zahl existieren. Nicht alle, die man in den sechziger Jahren ansiedelte und die auf Sozialhilfe, billigen Strom wie auch gut beheizte Häuser rechnen durften, blieben hier. Die meisten zogen weiter nach Süden, wo das Leben doch leichter ist. Andere lieber nach Norden, wo man auf den arktischen Inseln nach Art der Väter leben und im Eis lesen kann.Himmel und ErdeDie heutigen Bewohner der Stadt arbeiten in der Mehrzahl für den Wetterdienst oder reparieren Rohrleitungen, Autos und Flugzeuge. Mancher von ihnen verschwindet, wenn sich die Polarnacht über die Stadt senkt. Und Touristen gibt es im Winter selten bis gar nicht, doch im Sommer kommen all jene, die den Dempster Highway in seiner ganzen Länge befahren. Dann wird Inuvik zum letzten Außenposten der Zivilisation, ein gemütliches, brummendes Städtchen mit Zapfsäulen und Coca Cola in den Läden.Im Winter aber drängt sich die Frage auf: Ist dieser Ort der Menschen ein Ort für Menschen? Inuvik verweigert die Öffnung, hält eine eisige Distanz. Als sei es eine Stadt wider Willen, nur der Ausdruck einer menschlichen Überheblichkeit, die der Arktis Straßen abtrotzte und sie mit Häusern wie Narben übersäte. An der in Form eines Iglus gebauten Kirche bleibt das nach Schönheit suchende Auge hängen und ist enttäuscht: Strahlender, größer, von einem festeren Glauben erfüllt hatte das Gebäude, das den schönen Namen Igloo Church of our Lady of Victory trägt, auf den Fotos ausgesehen. Die wirkliche Kirche ist klein, das Weiß vergilbt, in der Nachbarschaft ein Restaurant, das – mit Holzbrettern vernagelt – für immer geschlossen scheint. Vor der Tür stapeln sich Ziegel, als habe jemand noch geplant, die Räume innen zu erneuern, und es sich dann anders überlegt. Nun hat die Winterkälte die Steine zerbrechen lassen.Dann gibt es noch zwei Fast-Food-Filialen, in den Supermarkt hineingequetscht. Ein Büro der kanadischen Post, ein Krankenhaus mit 26 Betten und 9 Ärzten. Drei Hotels, alle nicht schön, nur praktisch. Manche Häuser sind auf Pfählen errichtet, dazwischen dampft es, weil sie über ein Rohrsystem mit Wasserdampf beheizt werden. In Rufweite eines Sportzentrums liegt eine Satelliten-Empfangsstation des deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Es gibt eine Halle, die zugleich Ausstellungsort für Kunst, für Speckstein-Schnitzereien und Holzarbeiten ist – viele Bären, viele Adler, aber auch Menschen, zusammengekauerte Figuren. Frierend sehen sie aus, aber vielleicht ist das nur die Projektion eigener Befindlichkeit. Es ist gesorgt für das tägliche Allerlei. Auch für die Seele?„Ja, oh ja“, sagt Grover. Dies sei ein durch und durch menschlicher Ort. Ganz im Gegensatz zur Weite der Arktis, zum leeren, todbringenden Eis. „Heute braucht ein Mensch Schutz und ein Haus. Inuvik wird gebraucht, weil uns Zelte und Iglus zu kalt wurden. Und weil die Natur nicht mehr unser Freund war.“ Dann geht er wie ein Häuptling, der gesprochen hat. Dreht sich an der Ecke nochmal um. „In Inuvik darf man nicht nur nach unten sehen. Nicht auf den Schnee und nicht auf die vereisten Straßen, die gefährlich sind. Man muss nach oben schauen, auf den Himmel über uns. Man vergisst, dass man beides braucht. Schuhe an den Füßen und eine Mütze auf dem Kopf.“Grover sieht jetzt zufrieden aus und schlurft endgültig davon. Und plötzlich versteht man: Wo Menschen wie Grover sind, ist immer ein Ort für Menschen.
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