Am Ende stehen Fußnoten

Sachbuch David Steinitz hat eine „Geschichte der deutschen Filmkritik“ vorgelegt, in der kaum vorkommt, was doch ihr Gegenstand sein sollte: die klassischen Texte
Ausgabe 25/2015

Dieses Buch, die Geschichte der deutschen Filmkritik, enthält 1.192 Fußnoten, aber keinen interessanten Gedanken – wobei der Autor für jeden Gedanken, den er nicht hat, brav eine Fußnote setzt. Dieses Buch, die Sachbuchversion einer Dissertation, erzählt eine Geschichte, die erzählenswert ist, die Geschichte der deutschen Filmkritik. Es erzählt sie mit großem Eifer von den Anfängen bis in die Gegenwart, aber es erzählt sie im engeren Sinne auch wieder nicht. Es betreibt nämlich Geschichtsschreibung als Wikipedia-Wissenschaft: Zusammengetragen wird vermeintlich gesichertes Wissen, wobei als gesichert schon gilt, was irgendwo ein anderer schrieb. (Das sage ich auch als „Autorität“, die mehr als einmal zitiert wird.)

Heraus kommt Wissenschaft als Karikatur ihrer selbst, denn obwohl alles belegt ist, stimmt aufs Ganze gesehen fast nichts: Schon das ahnungslos-eitle Vorwort des Nicht-Filmkritikers C. Bernd Sucher ist peinlich, der „Theorieteil“ (Referate zu Kant, Hegel, Marx und Adorno) ist hanebüchen naiv; völlig überflüssig und sinnlos sind die so ausführlichen wie seminararbeithaften Zusammenfassungen zur Geschichte des Films vor jedem Kapitel. Die Seiten werden so gefüllt mit Sachen, die man anderswo genauer und differenzierter und richtiger nachlesen kann. Ein konsequenter Blick etwa auf die Filmkritik in anderen Ländern hätte sehr viel weiter geführt. Aber viel schlimmer noch ist: Der eigentliche Gegenstand des Buchs kommt bei Licht besehen kaum vor.

Der Gegenstand wären, sind aber nicht: die Texte der Klassikerinnen und Klassiker der Filmkritik. Wie selten zitiert Autor David Steinitz, der doch selbst Filmkritiker ist, aus filmkritischen oder filmessayistischen Texten. Wie kann man denn die Kritiker etwa der Weimarer Jahre lesen, Balázs, Kracauer, Haas, um nur die Größten zu nennen, ohne ihre Kunst, ihre Sprache, ihre Einfälle, kurz: die literarische Faktur ihrer Kritiken zu würdigen?

Sortieren soll die Post

Oder später die spätexpressionistischen Exaltationen des begabten Kerr-Epigonen Gunter Groll, den Steinitz doch so sehr schätzt, dass er demnächst ein Buch mit gesammelten Texten herausgibt. Oder Frieda Grafe, deren Werk Satz für Satz das meiste überragt, was in Deutschland in den 70ern und 80ern an Texten gleich welcher Art produziert worden ist. Steinitz zitiert, aber nicht weil er einen Satz, einen Gedanken, eine Formulierung, eine Beobachtung, also die Kritikerin oder den Kritiker als Autor ernst nimmt, sondern immer nur zum Beleg, dass er oder sie in diese Rubrik gehört oder jene.

Mal abgesehen davon, dass das Sortieren Sache der Post, aber nicht der Geisteswissenschaft ist: Denkbar grob ist das Raster, in das Steinitz seinen Gegenstand zwingt. Genau zwei Sorten der Filmkritik kennt er, eine, die er die „ästhetische“, eine andere, die er die „ideologiekritische“ nennt. Natürlich hat sich um diese Differenz manches gedreht, natürlich kann diese Unterscheidung als erster Notbehelf für einen Überblick taugen. Aber als roter Faden und große Erkenntnis einer Doktorarbeit?

Und unvermeidlich fällt Steinitz dabei ständig was hinten runter. Die präpotente Subjektivierungsemphase der Jungtürken Michael Althen, Claudius Seidl und Kollegen etwa wird unter Ästhetik subsummiert, so schwach sie oft im analytischen Zugriff aufs Ästhetische bleibt. Und wenn auch der Sortierwütigste nicht übersehen kann, dass die Unterscheidung nicht aufgeht, exemplarisch eben im Fall Frieda Grafes, wird nicht die Tauglichkeit der Unterscheidungskategorie in Frage gestellt, sondern Grafe zur großen Ausnahme erklärt – aber deswegen noch lange nicht ernsthaft analysiert.

Vom Mangel an sprachlicher Eleganz, der Vagheit der Begriffsverwendungen, vom kompletten Desinteresse an aktuellerer Theorie, von Ungenauigkeiten in Hülle und Fülle, die dieses Buch prägen, wäre zu reden. Ein Desaster eigener Art ist es, dass man mit einer solchen Arbeit an einer sogenannten Eliteuniversität promoviert werden kann. Eine Geschichte der deutschen Filmkritik jedenfalls bleibt zu schreiben.

Info

Geschichte der deutschen Filmkritik David Steinitz Edition Text+Kritik 2015, 325 S., 30 €

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Geschrieben von

Ekkehard Knörer

Redakteur Merkur und Cargo.

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