Am Ende überleben die Frauen

Baltikum Sofi Oksanens Roman „Fegefeuer“ ist ein böses Buch – und ein gutes. In Skandinavien ist es sogar ein Bestseller und macht "Harry Potter" Konkurrenz

Fegefeuer verkaufte sich in Finnland so gut wie Harry Potter. Dabei spielt der dritte Roman Sophie Oksanens in Estland und erzählt die Geschichte zweier Frauen, denen beiden nicht viel Gutes widerfahren ist in ihrem Leben. Gleichzeitig ist es die Geschichte der Irrungen und Wirrungen, die Estland seit den Dreißigern stark mitgenommen haben. Das Land ganz oben im Norden des Baltikums ist nicht mehr Europa, aber auch noch nicht Russland, gehörte in der Vergangenheit mal dahin, mal dorthin. Die 1977 geborene Sofi Oksanen kennt die traurige Geschichte Estlands gut, ihre Mutter ist Estländerin, ihr Vater Finne.

Fegefeuer beginnt in den Dreißigern des 20. Jahrhunderts, mit der Geschichte der Familie von Aliide, die in einem Dorf lebt. In den Vierzigern werden ihre Eltern von den Nationalsozialisten verschleppt, nein, als Baltendeutsche „heim ins Reich“ geholt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommen die Russen und führen den Kommunismus ein. Wer sich nicht den neuen Machthabern unterwerfen will, wird gebeutelt, enteignet, weggebracht – mithilfe auch von estnischen Spitzeln: „Zur selben Zeit verwandelte sich das Gold, das den nach Sibirien Deportierten gestohlen worden war, in neue Zähne in neuen Mündern, das vergoldete Lächeln strahlte mit der Sonne um die Wette, und in deren Schatten entstand eine unermessliche Menge ausweichender Blicke und Mienen.“ In den frühen Neunzigern schließlich kommt der Zusammenbruch der Sowjetrepublik. Junge, „national“ gesinnte Männer ziehen umher, grölen, werfen Steine an die Fenster derjenigen, die aus Angst um ihr Leben zu sehr mit den Russen gekungelt haben. So werden auch die Fenster von Aliides Haus getroffen, die alt und alleine auf einem kleinen Hof in West-Estland lebt. Und plötzlich Besuch bekommt.

Eine Form der Wiedergutmachung

Zara, die Besucherin, ist die zweite Frau in Sofi Oksanens Roman, sie ist gerade dem Teenageralter entwachsen. Nun ja, Besuch stimmt eigentlich nicht, Zara liegt plötzlich auf dem Gras vor Aliides Fenster. „Das Bündel lag unter den Hofbirken. Das Bündel war ein Mädchen. Verdreckt, zerlumpt und ungepflegt, aber doch ein Mädchen.“ Die junge Frau ist auf der Flucht vor den russischen Männern, die sie entführt haben und zur Prostitution zwingen. Es sind Monster, denen sie nur entkommen konnte, indem sie einen von ihnen umbrachte. Aliide kümmert sich um Zara; später stellt sich heraus, dass ihre Schwester Ingel die Großmutter von Zara ist.

Solidarität unter Frauen spielt in Fegefeuer eine große Rolle. Aliide hilft Zara. Doch vierzig Jahre zuvor hat sie ihrer eigenen Schwester, Ingel, nicht geholfen – aus Neid: Aliide hat Hans, ihre große Liebe, an Ingel verloren. Deshalb hat Allide einen Russland-treuen Kommunisten geheiratet, was sie zwar vor politischem Ärger bewahrte, aber nicht vor persönlichem. Aliides Schwager ist nun nicht nur als Partner für sie unerreichbar, er muss sich auch als Anhänger der anti-russischen Widerstandsorganisation verstecken. Als Aliide herausfindet, dass die Deportation ihrer Schwester und deren Tochter bevorsteht, greift sie nicht ein. Sie hofft immer noch auf eine Zukunft mit Hans. Sehr spät erst versteht sie, dass er für sie wirklich verloren ist. Doch da sind Ingel und ihre Tochter längst fort. Und so verhilft Aliide vierzig Jahre stellvertretend der Enkeltochter ihrer Schwester zur Flucht. Es ist ihre Form der Wiedergutmachung.

„Die Opfer sind immer die Frauen“, liest man in vielen Kritiken des Romans, „egal welches politische System herrscht“. Es sind aber die Männer, die sterben. Die Zuhälter von Zara werden erschossen. Der Revolutionär Hans erstickt. Das Herz von Aliides Ehemann versagt, als er den GAU von Tschernobyl begreift. Der Überlebenswille der Frauen ist dagegen so stark, dass sie auch die Gewalt nicht wirklich an sich heran lassen. So als würde es einen Bereich geben, den die Männer trotz ihrer Kraft nicht erreichen können.

Es gibt kein wirkliches Happy End in Fegefeuer. Zwar kann Zara mit Aliides Hilfe fliehen, vielleicht wird sie es auch nach Hause schaffen. Vielleicht werden alle wieder zurück nach West-Estland kommen. Vielleicht. Doch das eigentliche Wichtige ist, dass Aliide durch ihre Großnichte Zara den Teil ihrer Familie wieder findet, den sie durch ihre eigene Schuld verloren hatte. Wiedergutmachen, Vergeben, Hoffen – darin liegt das gute Ende von Sofi Oksanens außergewöhnlichem Buch.

Barbara Streidl, geboren 1972 in München, studierte Germanistik und Komparatistik

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