Am Kicker zeigt sich, welche Kollegen brennen

Neoliberalismus Lexikon der Leistungsgesellschaft: Ein antiquiert geglaubtes Spielgerät hält Einzug in die moderne Unternehmenskultur – und bringt Charaktere zum Vorschein
Ausgabe 44/2018
So manche Bürofeindseligkeit projiziert man besser auf eine Spielfigur
So manche Bürofeindseligkeit projiziert man besser auf eine Spielfigur

Foto: Imago/Imagebroker

In der dunklen Ecke, umhüllt von einer Rauchschwade, vollgeklebt mit bunten Stickern, seine zerkratzten Figuren hier und da mit grauem Panzerband geflickt: So kennt man ihn, den klassischen Kicker. Aus der Kneipe nämlich. Oder? Denn er kann auch anders. Nicht geflickt, sondern glänzend. In der Design-Klitsche, vor der weiß gestrichenen Wand oder der hellen Fensterfront, ganz ohne Rauchschwade. Denn vor einigen Jahren hat die Start-up-Szene das Spielgerät in die Berufswelt eingeführt. Und nun stehen die Tische auch in der schwäbischen Provinz beim mittelständischen Familienunternehmen, nicht mehr verstaubt, sondern mit dynamischem Office.

Das freut die Branche: Etwa die Hälfte der Kunden des Marktführers im Tischkicker-Segment Ullrich Sport sind inzwischen Unternehmen – vor knapp zehn Jahren lag der Anteil noch bei 20 Prozent. Immer mehr Kneipen schließen, und Ullrich Sport verkauft in diesem Jahr mehr Tische als jemals zuvor.

Denn auch die fleißigsten Untergebenen brauchen mal eine Auszeit. Kickernd lernen die Angestellten, die Ärmel hochzukrempeln, im Team zu playen und ganz nebenbei die Augen-Hand-Koordination zu trainieren. Am Tisch entscheidet sich, wer bei einem 0:4-Rückstand noch alles gibt, um das Spiel zu drehen. Einige Personaler haben dies erkannt und entscheiden auch mal bei einem Match, welcher Bewerber am belastbarsten ist. Doch Vorsicht: Manche Angestellte können nicht genug bekommen und liefern sich mehrmals am Tag epische Duelle. Anschließend straucheln sie völlig ausgepowert, vollgeschwitzt und müffelnd ins Großraumbüro. Zu allem Überfluss nerven sie dann ungefragt mit detaillierten Spielberichten.

Das stößt bei den weniger Spielwütigen nicht gerade auf Begeisterung, haben sie doch, während auf dem Gang laut geklackert wurde, vor allem eines versucht: sich trotz des Lärms auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Die Kickerverliebten behaupten indes, vor dem Tisch seien alle gleich, ob Boss oder Putzkraft – zumindest theoretisch, denn leider lässt sich der Senior Manager nie blicken und der Facility Manager mag sich auch keine eine kreative Pause gönnen. Könnte der nicht einfach ein paar Überstunden machen, ein bisschen Zeit für das gemeinschaftliche Kickern aufbringen? Laut dem aktuellen Start-up-Monitor arbeiten die Gründerinnen und Gründer im Schnitt 56 Stunden die Woche. Klar, da bleibt nicht mehr viel Zeit für die Kneipe.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt in dieser Kolumne sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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