Die Weltmedien berichteten kaum darüber, als am 21. Dezember im Westen der mehrheitlich von Sunniten bevölkerten Provinz Anbar 24 irakische Militärs – darunter der Kommandeur der 7. Division – getötet wurden. Die Männer seien auf der Jagd nach Al-Qaida-Kämpfern von einer an der Straße deponierten Bombe getötet worden, hieß es zunächst. Einer anderen Version zufolge marschierten sie durch die Stadt Rutba, als drei Männer ihre Selbstmordgürtel zündeten.
Entscheidend ist, was dann passierte: 24 Stunden später kündigte der irakische Premier Nuri al-Maliki eine neue Operation gegen militante Dschihadisten an. In einem Anflug von Opportunismus vor der Parlamentswahl Ende April konnte er der Versuchung nicht wid
nicht widerstehen, zwei Dinge auf gefährliche Weise über einen Kamm zu scheren. Als er am Tag nach dem Anschlag eine Rede hielt, nahm er nicht nur Al-Qaida-Lager in der Wüste Westiraks ins Visier. Gleiches galt für die seit 2013 bestehende sunnitische Protestbewegung, die er als „terroristisch“ geißelte. Deren Zentrum liegt in Ramadi und Falludscha, zwei Städten in der Provinz Anbar, und verdient es nicht, derart stigmatisiert zu werden.Interne Machtkämpfe im Irak, deren Akteure sich oft ein konfessionelles Gewand überstreifen, haben sich durch den Krieg in Syrien zweifellos verschärft. Deshalb hat al- Malikis Rede eine Kaskade von Ereignissen ausgelöst. Ins Blickfeld geschleudert wurde einmal mehr Falludscha. Als dort 2003 Tausende Einwohner die Waffen gegen die US-Truppen richteten, wurde dieser Ort zur Wiege des irakischen Aufstands. Im Januar 2014 haben nun in Falludscha Al-Qaida-Kämpfer die Macht übernommen und damit nicht irgendwer. Zumindest auf dem Papier ist die Organisation Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIS) unter Führung des irakischen Sunniten Abu Bakr al-Baghdadi die bisher erfolgreichste Al-Quaida-Tochter. In Syrien kontrollierte sie mehrere Städte, bis die Freie Syrische Armee (FSA) jüngst eine Gegenoffensive startete, nachdem ISIS-Henker einen gefangenen Arzt und einen FSA-Kommandeur öffentlich hingerichtet hatten. Einen Selbstmordanschlag in einem schiitischen Vorort Beiruts konnte sich die ISIS ebenfalls gutschreiben. Was noch fehlte, war die Übernahme von Falludscha. Doch die offenbart weniger die Stärken als vielmehr strukturelle Schwäche von ISIS, die versucht, in Falludscha ein Kalifat zu errichten.Synonym für Gewalt?Schon vor der ersten Schlacht um diese Stadt nach einem von US-Marines geführten Angriff im April 2004, dem der Mord an vier Blackwater-Mitarbeitern voranging, verbarg das Banner des Widerstands gegen die Besatzung eine höchst komplexe Realität. Als ich vor zehn Jahren – unmittelbar nach dem Sturz Saddam Husseins – erstmals die „Stadt der Moscheen“ besuchte, gab sie sich konservativ und gastfreundlich. Westliche Journalisten konnten unabhängig arbeiten, auch wenn binnen eines Jahres aus vielen Metallwarenläden Bombenwerkstätten wurden. Ein Zeichen dafür, wie die ursprünglich aus patriotischen Motiven handelnden Aufrührer den Dschihadisten weichen mussten.Falludscha, diese uralte, an einem Knie des Euphrat gelegene Stadt, hatte sich Fremden stets widersetzt. Unter den Osmanen wurde sie zur Festung, um den mächtigen Stamm der Dulaimi unter Kontrolle zu bringen. 1920 starb hier der britische Entdecker und Kolonialbeamte Gerard Leachman durch ein Attentat. Zu Zeiten Saddam Husseins wurde Falludscha zu einer Bastion des sunnitisch dominierten Baath-Regimes. Ein überproportional hoher Anteil an Sicherheitspersonal und Staatsdienern lebte in der 80 Kilometer von Bagdad entfernten Stadt. Selbst in jenen Jahren blieben die Stammesführer aufsässig. Mehr als einmal zwangen sie Saddam, sich ihre Loyalität zu erkaufen. Doch wäre es völlig falsch, den Namen Falludscha als ein Synonym für Gewalt zu deuten. Von der US-Invasion 2003 und der Plünderungswelle danach blieb der Ort weitgehend unberührt. Erste US-Truppen, die dort ankamen, trafen auf intakte lokale Verteidigungseinheiten und einen Bürgermeister, der sich kooperationswillig zeigte.All dies änderte sich mit dem 28. April 2003. US-Fallschirmjäger, die eine Schule besetzt hatten, feuerten willkürlich in eine Demonstration vor dem Gebäude. 17 Zivilisten starben. Ein Jahr später, nach der ersten Schlacht um Falludscha, gab die Übergangsexekutive Order zur „Entbaathifizierung“. Damit waren Zehntausende Sunniten, die einst für das Regime arbeiteten, von jeder politischen Betätigung ausgeschlossen – und arbeitslos. Dieses Vorgehen wirft bis heute einen langen Schatten.Dabei handelte es sich beim bewaffneten Widerstand gegen die US-Besatzung nie um eine einfache Angelegenheit. Auch als der Aufstand an Dynamik gewann, blieb er geprägt von Rivalitäten und wechselnden Allianzen. So standen Baath-Nationalisten den ersten Dschihadisten gegenüber, aus denen sich das Netzwerk Al-Qaida im Irak (AQI) und ein Jahrzehnt später ISIS herausschälen sollten, die beide in großer Zahl Kombattanten aus Afghanistan und dem Jemen aufnahmen.Temporärer Effekt2006 entstand die sunnitische Erweckungsbewegung, die viele Stammeskämpfer gegen al-Qaida führte und mit den USA kollaborierte. Brian Fishman, Forschungsleiter Terrorismus an der US-Militärakademie West Point, verglich die Organisation AQI jüngst mit dem Nachfolger ISIS, der in Syrien, aber auch wieder im Irak operiert. Er urteilte, ISIS könne wegen der gleichen Ursachen scheitern wie zuvor AQI. Dabei gehe es nicht allein um den „islamischen Staat“, schrieb er vor den jüngsten Aufwallungen der Gewalt im Irak. Die Entfremdung bei vielen irakischen Sunniten habe auch etwas mit dem Versuch von AQI bzw. ISIS zu tun, eine drakonische Sozialpolitik gegenüber einer Bevölkerung zu betreiben, die Derartiges nicht gewöhnt sei. Dies habe dazu geführt, dass ISIS viel Zeit damit vergeudet habe, potentielle Verbündete zu bekämpfen, anstatt die schiitisch geführte Regierung in Bagdad zu stürzen. „Die Strategie von AQI sah vor, einen schiitischen Backlash gegen die Sunniten zu provozieren“, so Fishman. „Der Versuch, einen dschihadistischen Staat in einem mehrheitlich schiitischen Land zu etablieren und die dort bestehende Stammesordnung anzufechten, war sehr riskant.“Für diejenigen, die 2003 und 2004 die Aufstände im Irak verfolgt haben, ergeben sich momentan bemerkenswerte Déjà-Vu-Effekte. Die Protestbewegung in Anbar wird von einem Unmut befeuert, der Parallelen zur Reaktion auf die Entbaathifizierungs-Dogmen von 2004 aufweist. Was als legitime Bürgerrechtsbewegung begann, geriet sofort ins Visier einer irakischen Anti-Terror-Maschinerie. An einen etwaigen Schutz durch das korrupte Justizsystem war nicht zu denken. Premier al-Maliki weigerte sich zu verhandeln.Im März 2013 warnten sowohl sunnitische als auch schiitische Politiker: Da kein politischer Dialog zustande käme, ließen sich viele junge, desillusionierte Sunniten aus der Protestszene in Richtung al-Qaida treiben. Noch explosiver wurde die Lage durch den syrischen Bürgerkrieg, als sich dort die ISIS zu einem Hauptakteur mauserte und religiöse Spannungen schürte.ISIS-Führer Baghdadi hielt sich dabei an die Taktik seines Mentors und ehemaligen Emirs Abu Musab Al-Sarkawi, der 2006 bei einem US-Luftangriff getötet wurde. Das blieb so, als sich AQI im April 2013 – verbunden mit einer Kriegserklärung an die Regierungen in Bagdad und Damaskus – in ISIS umtaufte. Ein Fehler, wie sich zeigte. Denn in Syrien sorgen die Geheimgefängnisse, Scharia-Gerichte und Hinrichtungen inzwischen für starke Gegenreaktionen. Auch im Irak sind Anzeichen dafür zu erkennen, dass jene sunnitischen Kräfte, die einst koalierten, um erste Al-Qaida-Dependancen zu bekämpfen, sich erneut zusammenfinden.Angesichts der persönlichen Geschichte Baghdadis überascht es nicht, dass er seinen Methoden treu bleibt. Er wurde 1971 in der Stadt Samarra in eine religiöse Familie hineingeboren und promovierte an der Universität Bagdad im Fach Erziehungswissenschaft. Nach dem US-Einmarsch 2003 wurde er bald von der unter Sarkawi entstehenden AQI angezogen. Zunächst schleuste er ausländische Kämpfer in den Irak, später wurde er zum „Emir“ der Stadt Rawa an der syrischen Grenze berufen und saß einem Scharia-Gericht vor. Er war berüchtigt für den Wunsch nach Brutalität, wenn Menschen hingerichtet wurden, die im Verdacht standen, den US-Truppen Beistand zu leisten. Im Vorjahr kündigte Baghdadi an, seine neue Gruppe würde sich mit dem syrischen Rivalen Jabhat al-Nusra zusammentun. Die dementierte umgehend und wandte sich an Al-Qaida-Oberhaupt Ayman al-Zawahiri, der Baghdadi in die Schranken wies.Dieser Akt der Hybris entsprach ganz den Ambitionen und der Selbstüberschätzung, die es bei der ISIS-Führung weiter gibt. In Syrien klagen andere Rebellen, ISIS scheine vor allem daran interessiert, die eigene Herrschaft über eroberte Städte und damit Keimzellen eines eigenen Kalifats zu sichern. Trotz dieses Ansinnens ist Baghdadi offenkundig ein fataler taktischer Fehler unterlaufen, als er Kämpfer aus Syrien nach Falludscha und Ramadi abzog – dadurch verteilen sich seine Kombattanten auf ein so großes Territorium wie nie zuvor.Für Toby Dodge, Irak-Experte der London School of Economics, ein Indiz dafür, dass Baghdadi sich ernsthaft übernommen hat. „Diese Leute sind opportunistisch und anmaßend zugleich“, so Dodge. „Als al-Qaida nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003 erstmals im Irak in Erscheinung trat, waren Staat und Armee kollabiert. Inzwischen stehen 933.000 Mann unter Waffen. Was meinen Sie, wie lange werden sie Falludscha halten, sollte al-Maliki Ernst machen? Im Moment behaupten sich dort ISIS-Kommandos, weil die Dschihadisten davon profitieren, dass sunnitische Politiker bei ihrem Ansturm gegen die schiitische Autokratie in Bagdad nicht sehr geschickt und noch weniger erfolgreich waren. Und weil Premier al-Maliki sunnitische Protestcamps gewaltsam räumen ließ. All dies hat ISIS Zulauf verschafft, doch es bleibt ein temporärer Effekt.“ In Falludscha habe der Al-Qaida-Ableger außerdem aus historischen Gründen reüssiert. Die Stadt sei immer noch schwer traumatisiert und verfüge über keine geeigneten sozialen Strukturen, um al-Qaida abzuwehren. Der Darstellung der irakischen Regierung, wonach Syrien den Irak destabilisiere, widerspricht Dodge. „Größter Exporteur von Gewalt und Extremismus bleibt der Irak.“
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