Am liebsten ohne Volk

EU-Referenden europaweit Doch in Deutschland soll der mündige Bürger weiter den Mund halten

Nachdem Tony Blair am 20. April angekündigt hatte, den "Vertrag über eine Verfassung für Europa" den Wahlberechtigten zur Abstimmung vorzulegen, zog nun Jacques Chirac nach. Referenden sind in der Verfassung der V. Republik ausdrücklich vorgesehen. Seit 1958 gab es in Frankreich acht, wovon keines scheiterte und zwei ganz knapp ausgingen. Charles de Gaulle präsentierte dem Volk am 27. April 1969 eine Vorlage zur Regionalisierung Frankreichs. Er erhielt dafür nur 53 Prozent Zustimmung und trat zurück. Obwohl François Mitterrand bei der Abstimmung über den Maastrichter Vertrag am 20. Oktober 1992 nur 51 Prozent bekam, blieb er im Amt. Natürlich sind solche Volksbefragungen immer auch mit taktischen Kalkülen verbunden, die mit der Materie, über die abgestimmt wird, nichts zu tun haben. Eine Binsenwahrheit. Was in der Politik hat nicht auch mit (Wahl-)Taktik zu tun? Es entwertet Referenden nicht, dass sie auch mit sachfremden oder taktischen Überlegungen verbunden sein können.

Ein eigenartiges Demokratieverständnis verrät, wer in wichtigen Fragen das Volk prinzipiell nicht befragen will. In Sachen EU-Verfassung ließ die deutsche Regierung wissen, es gebe "keine Überlegungen, von dem bewährten parlamentarischen Verfahren abzuweichen", die SPD hält "es nicht mehr für praktikabel, das Verfahren zu wechseln". Die FAZ, wenn sie nicht gerade das Folterverbot relativiert, lässt lieber über die Rechtschreibreform und das Dosenpfand debattieren als über demokratische Minimalstandards.

Ein autokratisches Demokratieverständnis verrät im Unterschied zur Auffassung seines Parteivorsitzenden Bütikofer der deutsche Außenminister. Er möchte über die EU-Verfassung nur abstimmen lassen, wenn ein Nein automatisch den Austritt aus der EU nach sich ziehen würde. Die "Friss-oder-stirb-Mentalität", die sich hinter Fischers winkeladvokatorischer Improvisation verbirgt, verwechselt Regierungs- oder Kommissionsvorschläge mit quasi-göttlichen Vorgaben: Giscard d´Estaings Kommission hat jedoch ihre Verfassung nicht von Gott erhalten wie Moses die zehn Gebote. Im Unterschied zu Moses hat der Souverän in Demokratien immer das Recht, Vorschläge abzulehnen, Revisionen zu verlangen oder schlicht jemand anders zu beauftragen, einen neuen Vorschlag auszuarbeiten. Wer den jetzigen EU-Verfassungsentwurf nicht will - wofür es Gründe gibt -, lehnt nicht zwingend jeden anderen ab. Und wenn sich der Souverän irrt? Dann irrt er und hat die Zeche bis hinters Komma selbst zu bezahlen - im Unterschied zu den Politikern, die für die Folgen ihrer Irrtümer über allerlei Abwälzungsmethoden und - nach dem Rücktritt - über steuerfinanzierte Rückversicherungssysteme verfügen.

Es gibt Regierungen, EU-Abgeordnete und nationale Parlamentarier, die möchten die Sache mit der Volksherrschaft ("Demokratie") nicht ganz so wörtlich nehmen und kämen am liebsten ohne Volk aus. Wenn es um die Spielregeln im EU-Staatenbund geht, sollen die Bürger außen vor bleiben und schweigen wie in der Hongkong-"Demokratie" oder in der katholischen Kirche mit ihrer famosen Arbeitsteilung zwischen Priestern und Laien.

Das Misstrauen der Regierenden gegenüber dem Volk erschien berechtigt, solange die herrschenden Eliten Politik einseitig als Selbstbedienung von Königshaus, Adel oder Kirche organisierten. Man war gut beraten, der mehr oder weniger mit Gewalt erzwungenen Ruhe im Volk zu misstrauen. In der Demokratie haben sich die Souveränitätsverhältnisse jedoch verändert, die Bürger sind nicht länger der schlaftrunkene, tumbe oder rebellische Pöbelhaufen, wie sich vordemokratische und autoritäre Regimes das Volk vorstellten. Auf nichts anderes jedoch zielt die Warnung des Außenministers, das Volk "missbrauche" Abstimmungen, um "den Frust über die jeweilige Regierung loszuwerden". Demokratie heißt, dass die Regierenden jederzeit damit zu rechnen haben, dass die Regierten nicht mehr mitspielen. Dann muss nicht das Volk zurücktreten, sondern eine andere Regierung kriegt eine neue Chance - auf Zeit.


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