Was der Kurator leicht übersieht

Volksbühne Berlin Eigentlich ist in der Debatte alles gesagt worden. Deshalb ist dies ein Versuch, sie zu verstehen
Ausgabe 21/2017
Friedrich Hebbels Judith auf der Suche nach Liebe. Ob es Chris Dercon wohl ähnlich ergeht?
Friedrich Hebbels Judith auf der Suche nach Liebe. Ob es Chris Dercon wohl ähnlich ergeht?

Foto: Drama-Berlin.de/Imago

In drei Jahren ist Chris Dercon beliebt oder geht unter: So könnte man jetzt den legendären Spruch abwandeln, der 1992 zu Frank Castorfs Berufung auf den Volksbühnen-Chef gemünzt worden war. Mehr gehasst als der Castorf-Nachfolger Dercon wurde wohl noch nie ein Intendant in Deutschland. Und das, bevor er überhaupt angefangen hat. In der sogenannten Volksbühnen-Debatte ist eigentlich alles gesagt. Dies ist ein Versuch, sie zu verstehen. Denn den Aufschrei von Kolleginnen und Kollegen, Presse und Berliner Kulturszene finde ich in seiner Hysterie bemerkenswert.

Bildende Kunst versus Theater, Neoliberalismus versus Anarchie, Internationalismus versus Ostalgie – kurz: Dercon versus Castorf. Intendantinnen und Intendanten kommen und gehen, die meisten ziehen nach etwa zehn Jahren weiter an ein neues Haus. Frank Castorf aber hat sich in 25 Jahren Volksbühnen-Leitung ein unglaubliches Biotop geschaffen. Eine Festung, eine Heterotopie, einen geradezu extraterritorialen Raum subversiven Widerstands: gegen die Kolonialisierung und Komplettvereinnahmung der ehemaligen DDR durch die Bundesrepublik; auch gegen den Zeitgeist der Berliner Boheme, noch ehe es den Terminus „Das neue Berlin“ gab. Einen Raum, den man am liebsten bewahren würde, auch wenn ein Museum für die „alte“ Volksbühne die denkbar ungeeignetste Form wäre. Vielleicht ist es ja genau das, was Dercon vorhatte: Die alte Volksbühne mit den Arbeiten von Castorf, Marthaler, Pollesch, Schlingensief im Zentrum zu lassen, deren Werke für die internationale Kunstgemeinde aufzuarbeiten, zu kontextualisieren – als umspieltes Museum. Wenn das die Idee war, wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Angeblich will keiner der zentralen künstlerischen Volksbühnen-Akteure dabei mitmachen.

Größere Antagonisten als Castorf und Dercon könnten nicht aufeinandertreffen. Tun sie auch nicht, sagt die Gerüchteküche, sie reden nicht miteinander. Castorfs Imperium ist dirty und rough, verweigert sich dem Mainstream, das geht von den Bühnenbildern bis zum Corporate Design. Die Volksbühne war immer der Inbegriff eines widerständigen Stadttheaters, in dem Stücke und Formate entwickelt wurden, die wegweisend für die Theaterästhetik in Deutschland waren. Hier tut sich für mich jetzt ein Widerspruch auf: Das Anti-Stadttheater wird von bisher kontrovers diskutierenden Akteuren plötzlich einstimmig zum Inbegriff des Stadttheaters erklärt. Stadttheater-Intendanten befürchten die Zerstörung des Repertoire-Mainstreams – und die Linke befürchtet die Umwandlung eines kritischen Ortes in den Mainstream. Dabei war die Volksbühne immer so viel mehr als nur ein Theater. So gesehen war die Wahl von Dercon durchaus nachvollziehbar.

Trotz der Spartenvielfalt stand im Zentrum des Hauses immer die große Bühne. Dieses Zentrum wird künftig relativ leer sein. Aus meiner Sicht ist das die Schwäche des Dercon-Programms für die ersten Monate. Tragende Ideen für diese unvergleichliche Arena fehlen. Das Haus soll eher bespielt werden wie eine Kunsthalle, wie ein kuratierter Raum. Dercons Herkunft aus der bildenden Kunst ist deutlich erkennbar, schon in der Sprache. Der Kunstraum stülpt sich über den Theaterraum. Das Theater auszudehnen und die Volksbühne als Ganzes fürs Publikum erlebbar zu machen, hat Sinn. Doch die große Bühne ist das Herz aller Theaterarchitekturen – das sollte Chris Dercon nicht übersehen.

Amelie Deuflhard leitet seit 2007 die Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg

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