Amerika ist nur der Ort, wo es passiert

Lauschangriff Das Solo-Album von Vijay Iyver ist Jazz auf der Höhe der Zeit

Jazz sei eine „Musik mit Migrationshintergrund“ erklärte Peter Schulze, der frühere künstlerische Leiter des Berliner Jazzfests einmal treffend. Mit ihr rückte er Amerika als den Entstehungskontinent des Jazz aus dem Blickpunkt, ohne dessen prägende Rolle zu verleugnen. Schließlich beschreiben auch die Kriterien, mit denen Jazztraditionalisten ihre Musik erklären – Swing, Blues, individuelle Tonbildung – Formen, die sich aus Verschmelzungsprozessen entwickelten. Nach Amerika gebracht hatten sie Verschleppte aus Afrika und Einwanderer aus Europa.

Mit der Öffnung in den sechziger Jahren erweiterten sich Tonalität und Puls des Jazz. Blues und Swing waren nur mehr als Spuren zu hören, Musiker wie Don Cherry oder Charlie Mariano begannen, sich mit asiatischen Musikkulturen zu beschäftigen. Seither treibt nicht mehr die Dichotomie zwischen weißen und schwarzen, europäischen und afrikanischen Anleihen den Jazz voran. Zwar ist Amerika Zentrum des Jazzgeschehens geblieben, doch sein Alleinvertretungsanspruch wird nur noch von Besitzstandswahrern erhoben.

Gerade dort sind zuletzt Musiker ins Licht der Jazzbühnen getreten, die auf andere Migrationserfahrungen blicken. Nach einer Änderung der Einwanderungsgesetze kamen Mitte der sechziger Jahre erstmals zahlreiche Immigranten aus Indien und Südasien in die USA und gründeten dort Familien. Inder oder Amerikaner? „Ich bin schon immer beides“, sagt der Pianist Vijay Iyer, „und keines von beidem. Meine Identität ein Hybrid.“ Das ist auch Iyers musikalische Ausgangsbasis. Als Kind lernte er Violine, und auf dem Klavier seiner Schwester genoss er es, einfach zu spielen, zu improvisieren, wenn man so will. Iyer wuchs auf mit der Popmusik der achtziger Jahre, er hörte aber auch klassische, indische Musik, spielte in Rockbands und im Jazzensemble seiner High School. Später studierte er Mathematik und Philosophie, schrieb eine Dissertation über den Zusammenhang von musikalischer Empfindung und ihrer körperlichen Entsprechung und entwickelte sein Spiel an der Seite von Außenseitern des Jazz wie den Saxofonisten Roscoe Mitchell, Steve Coleman oder Rudresh Mahanthappa weiter.

Mit Mahanthappa, der ebenfalls 1971 als Kind indischer Einwanderer in Amerika geboren wurde, verbindet Iyer ein musikalisches Verständnis, das ihre Zusammenarbeit schon über fünfzehn Jahre trägt. Die Distanz zum Hauptstrom des aktuellen Jazz blieb gewusst gewählt, und mittlerweile zahlt sie sich aus: Ohne je auf Standardjazz oder weich gekochte Begleitfunktionen ausweichen zu müssen, schärfte Iyer seinen eigenen Ton und entwickelte eine Musik, in der seine hybride Identität keine Frage ist.

Gerade hat Iyer ein Solo-Album veröffentlicht, das die Facetten seiner Identität verdeutlicht. Alles ist hier zu finden: die Logik der Mathematik und die Romantik der Gefühle, der Blues seiner musikalischen Helden Monk, Ellington, Andrew Hill und eine Bewegungsenergie, die man als Swing nicht missversteht. Rhythmische Muster schließlich, die stark an bestimmte Rhythmen der indischen Musik erinnern: alles vorhanden, doch nichts ist so geblieben, wie es war, jeder musikalische Einfluss ist in der Begegnung mit der hybriden Sensibilität des Pianisten auf eine Reise gegangen und findet nun zu einer neuen Form. Das Ergebnis ist: Musik mit Migrationshintergrund, Jazz auf der Höhe der Zeit.

Vijay Iyer Solo; V. Iyer Trio Historicity (beide ACT); V. Iyer (Trio + R. Mahanthappa): Tragicomic (Sunnyside); V. Iyer/R. Mahanthappa Raw Materials (Savoy); R. Mahanthappa Kinsmen (Pi Recordings)

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