Vor einem Jahr war Jason Russell noch ein völlig Unbekannter. Er war der Vater von zwei Kindern, lebte im kalifornischen San Diego und war glücklich mit seiner Arbeit für die Non-Profit-Organisation Invisible Children, die er mitgegründet hat.
Dann veröffentlichte er am 5. März 2012 den Film Kony 2012 im Internet – und danach war nichts mehr wie zuvor. Russell hatte bei dem 30-minütigen Youtube-Video Regie geführt und war selbst mit seinem fünfjährigen Sohn Gavin darin zu sehen. Der Film erklärt, warum der afrikanische Warlord Joseph Kony gefasst und vor Gericht gestellt werden sollte. Er habe in den vergangenen 25 Jahren 30.000 Kinder entführt und zu Soldaten oder Sexsklaven gemacht, so der Vorwurf. Und der Film entwirft die Vision eines Weltgewissens, bei dem 750 Millionen Facebook-Nutzer Anteil am Schicksal ugandischer Kinder nehmen.
Nackt und fluchend
Kony 2012 verbreitete sich innerhalb von Stunden im Netz, so schnell wie kein Video zuvor. Nach einem Tag hatten eine Million Menschen den Film gesehen, nach sechs waren es 100 Millionen. Journalisten rund um die Welt wollten Interviews mit Russell. Jede Nachrichtenseite brachte eine Geschichte, jeder Blogger hatte eine Meinung zu ihm. Allein auf Youtube finden sich über eine Million Kommentare zu dem Film.
Zehn Tage nach der Veröffentlichung riss Russell sich die Kleider vom Leib, rannte nackt auf die Straße, warf sich gegen parkende Autos und schrie obszöne Wörter, bis die Polizei ihn abführte. Auch sein Zusammenbruch wurde gefilmt – und fand als Video rasch Verbreitung im Netz.
Russells Ärzte konnten sich nicht auf eine eindeutige Diagnose einigen. Er wurde mit Verdacht auf eine manisch-schizophrene Phase, ausgelöst durch posttraumatischen Stress, in eine Klinik eingewiesen. Erst nach zwei Monaten durfte er wieder nach Hause zu seiner Familie. Bis heute nimmt er Psychopharmaka.
Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Kony 2012 sitzt Russell gebräunt in seinem Büro in San Diego und erzählt von den Tagen vor seinem Zusammenbruch. „Auf der einen Seite war da Bono, der sagte, Jason Russell verdient einen Oscar. Und Oprah Winfrey wollte Stadien mit mir füllen. Auf der anderen Seite gab es Leute, die uns vorwarfen, wir hielten uns für weiße Helden, die Afrika retten wollten. Und wer uns etwas spende, fördere nur die Korruption. Oder sie schrieben mir, in der Hölle sei ein Platz für mich reserviert. Das waren Extreme, die ich nicht unter einen Hut bringen konnte.“ Eine Woche lang gab er ein Interview nach dem anderen. „Mir drehte sich der Kopf. Dann sagte mein Kollege: ‚Jason, wir müssen uns überlegen, was wir gegen die negative Presse unternehmen können.‘“ Erst da begann er auf seinem Laptop nachzulesen, was im Netz vor sich ging. „Gleich im ersten Artikel, den ich las, standen all diese Dinge: ‚Jason Russell, weißer Erlöser-Komplex, Propaganda für Militärintervention, zweifelhafte Finanzen, blablabla.‘ Und auf einmal machte es Peng, und ich fühlte mich wie in der Schule, in der ich früher oft gehänselt wurde. Du denkst, du seist erwachsen und hättest das hinter dir – und dann merkst du, dass das nicht so ist.“
2003 reiste Russell das erste Mal nach Uganda, nachdem er sein Studium an der Filmhochschule in Los Angeles abgeschlossen hatte. Er war 24 und suchte zusammen mit zwei Freunden nach einem Thema für einen Film. In der Stadt Gulu entdeckten sie Tausende von Kindern, die nachts in Scharen zusammen auf der Straße schliefen, weil sie Angst hatten, in ihren Dörfern entführt und in Joseph Konys Lord’s Resistance Army (LRA) gezwungen zu werden. Daraufhin gründeten die drei US-Amerikaner die NGO Invisible Children.
Die Höllenhunde des Netzes
Russell sagt, er habe noch nie unter irgendwelchen psychischen Problemen gelitten, bis das Internet seine Höllenhunde auf ihn losließ. Hätte irgendjemand dem Druck standhalten können, unter dem er sich damals befand? „Meine Ärzte sagen, es gebe nur wenige Leute, die aus dem Nichts schlagartig zu solcher Bekanntheit gelangen und dann in der Luft zerrissen werden. Ich weiß nicht, ob ich es heute verarbeitet habe. Es gibt immer noch Tage, an denen ich denke, dass das Ganze ein kompletter Flop war und ich alle enttäuscht habe.“ Und was ist mit den anderen Tagen? „Es gibt auch welche, an denen ich denke, dass wir das durchgezogen haben, was wir uns vorgenommen hatten.“
Hätte er durch den Stress einen Herzinfarkt erlitten, wäre die Sache wohl anders gelaufen. Herzinfarkt-Patienten wird Sympathie entgegengebracht – Menschen, die sich auf der Straße ihre Kleider vom Leib reißen, nicht unbedingt. Viele hielten ihn bereits vorher für einen Idioten. Sein Zusammenbruch bestätigte sie nur in ihrer Meinung. „Das Ärgerlichste daran ist, dass es bestimmten Leuten eine Ausrede gibt, überhaupt nichts zu tun“, sagt Russell. „Die Leute sind so. Sie sagen: ‚Hat sich dieser Filmemacher nicht das ganze Geld unter den Nagel gerissen und ist dann nackt auf der Straße herumgerannt?‘“
Russell hat kein Geld veruntreut. Invisible Children kann für die vergangenen fünf Jahre Bilanzprüfungen nachweisen und erhielt für seine finanzielle Solidität nach vorangegangener Kritik nun vier von vier möglichen Sternen der Watchdog-Organisation Charity Navigator: „Sie verwenden über 80 Prozent ihres Budgets auf Programme und Hilfen“, heißt es bei Charity Navigator. „Damit stehen sie besser da als die meisten Wohltätigkeitsorganisationen, die wir in unserer Datenbank führen.“
Im Büro von Invisible Children in San Diego arbeiten 60 Mitarbeiter und 35 Praktikanten. In kühlen, ruhigen Räumen nehmen sie Anrufe entgegen und tippen auf Computertastaturen herum. Vor einem Jahr habe das hier ganz anders ausgesehen, sagt der Geschäftsführer Chris Carver. „Für die Öffentlichkeitsarbeit war allein eine Praktikantin zuständig. Und die hatte jeden Tag über 4.000 E-Mails im Posteingang. In jeder Sekunde hatte unsere Seite 37.000 User.“ Die Webseite war vorher einem Stresstest unterzogen worden, um zu sehen, ob sie auch einen Fernsehauftritt von Russell bei Oprah Winfrey verkraften würde. Aber sie brach ebenso zusammen wie das Telefonnetzwerk. Es war ein Kommunikations-GAU. „Wir konnten mit der Außenwelt nur noch über eine Blog-Plattform kommunizieren. All die Auskünfte über unsere Finanzen, unsere Bilanzprüfungen, die Fakten zu unseren Programmen, die elf Schulen, die wir in Uganda gebaut hatten, die Stipendien, die wir bezahlt hatten, das Radio-Frühwarnsystem, das wir im Kriegsgebiet aufgebaut hatten – all das war nicht erreichbar. Die Leute wollten Antworten, sie brauchten Kontext. Wir hatten das alles, konnten es ihnen aber nicht zeigen.“
Die Empörung von Teenagern
Auf dem Höhepunkt der Kritik wurde Russell vorgeworfen, er führe eine Sekte oder leite eine geheime evangelikale Mission. Er sei ein Narzisst, ein Größenwahnsinniger und ein rassistischer, kriegstreiberischer Angeber, der dem „industriellen Komplex der weißen Erlöser“ entstamme, wie es ein Kommentator auf Twitter ausdrückte. Wenn man Russell heute trifft, fällt einem vor allem auf, wie arglos er ist. Er erzählt einem stundenlang praktisch alles über sich, um am Schluss zu sagen: „Sie werden das jetzt aber nicht alles verdrehen und nur darüber schreiben, dass ich gläubiger Christ bin, oder?“ Einmal telefonierte er nachts um vier Uhr zwei Stunden mit einem Journalisten. „Und dann schrieb er diesen schrecklichen Text, in dem er behauptete, wir seien eine evangelikale Sekte. Ich glaube nicht, dass ich damit fertig werden könnte, wenn ich noch einmal so verletzt werden würde.“
In einer der stärksten Szenen von Kony 2012 sind die Kinder zu sehen, die zu Tausenden auf der Straße schlafen, weil sie Angst haben, entführt zu werden. „Und wie lange geht das schon so?“, fragt eine Stimme aus dem Off, um hinzuzufügen: „Wenn das in Amerika auch nur eine Nacht passieren würde, wäre es überall auf den Titelseiten!“ Man kann die jugendliche Wut der Filmemacher spüren, als sie in diesem Moment realisieren, dass die Welt von Grund auf ungleich und ungerecht ist – und es ist ihnen gelungen, dieses Gefühl der Empörung in Kony 2012 einzufangen.
Es gibt viele Erklärungsversuche, warum der Film sich so rasant im Netz verbreitete. Ein wichtiger Grund war sicher, dass er besonders bei Teenagern ungeheuer populär wurde. Und das war kein Zufall. Die eindeutige Gut-Böse-Logik und die Empörung von Teenagern liegt allem zugrunde, was Russell und seine Kollegen machen. „Es gibt nichts Stärkeres als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, ist Russells Stimme zu Beginn des Filmes aus dem Off zu vernehmen. Was immer man über ihn und Invisible Children denken mag – die suggestive Kraft der Eröffnungssequenz lässt sich nicht leugnen. Vor dem Hintergrund einer sich drehenden Erde und dunkler Musik erklärt Russell, dass „heute mehr Menschen bei Facebook angemeldet sind als vor 200 Jahren auf der Erde lebten“. Und die größte Sehnsucht der Menschen bestehe darin, miteinander in Verbindung zu treten, sagt er. „Diese Verbindung wird die Welt verändern.“ Das Video sollte als Social-Media-Experiment zeigen, ob es möglich ist, Joseph Kony bekannt zu machen und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass in einer globalisierten Welt niemand dem langen Arm der internationalen Justiz entkommt.
Dass Russell dafür auch seinen fünfjährigen Sohn Gavin vor die Kamera holte und ihm erklärte, wer Kony ist und was er mit Jungen macht, die nicht viel älter als Gavin sind, sahen manche als genialen erzählerischen Kniff. Andere empfanden diese Emotionalisierung und die Instrumentalisierung des Kindes als widerlich.
Russell ist in Südkalifornien aufgewachsen. Und wenn er redet, klingt er oft wie ein Surfer außer Dienst. Was bildete sich dieser blonde Typ ein, der Welt von einem zentralafrikanischen Warlord zu erzählen? Doch gerade dieser Kontrast hat auch etwas Faszinierendes: Draußen scheint die Sonne, der Pazifik rauscht, und all diese jungen Leute in den Büros verbringen ihre Tage damit, sich um einen Konflikt zu sorgen, der so weit von ihrem eigenen Leben weg ist, dass es absurd wirken könnte, wenn da nicht ihre Ernsthaftigkeit wäre.
Wenn man sich mit der Debatte um die Methoden von Invisible Children und mit der Kritik an ihrem simplifizierenden Ansatz beschäftigt hat (siehe Kasten), überrascht es einen, dass die professionellen Entwicklungshelfer, die in Zentralafrika vor Ort sind, voll des Lobes über Russell und seine Kollegen sind. Anneke Van Woudenberg von Human Rights Watch sagt am Telefon, sie sei erstaunt über den Erfolg des Films gewesen. „Was auch immer man darüber denken mag, er hat das Problem bewusst gemacht. Und Bewusstsein ist der erste Schritt, um politisch etwas zu verändern. Ich arbeite seit 13 Jahren in Zentralafrika und dokumentiere die Gräueltaten der LRA seit 2006. Es gab Höhen und Tiefen der Berichterstattung, aber wir haben nie das Interesse erlebt, das Kony 2012 weckte.“
Mark Galloway von der NGO International Broadcasting Trust nennt den Film einen „Game Changer“ – etwas, dass die Art, wie NGOs mit der Öffentlichkeit kommunizieren, grundsätzlich verändern werde: „Unsere Kinder haben darüber geredet. Ich habe überhaupt erst von meinem Sohn davon erfahren. Ich hab ihn gefragt, wie es sein kann, dass er von einem Video über Kony gehört hat und ich nicht – wo es doch mein Job ist.“
In der neuen Welt der viralen Verbreitung kann eine Geschichte sich in Stunden rund um den Globus verbreiten – und dann ist irgendwann plötzlich alles wieder vorbei, und es bleibt nichts als eine große Rauchwolke. Wenn man sich bei Google Trends die Kurve zur Verteilung des Wortes „Kony“ im Netz ansieht, kann man sehen, dass sie innerhalb eines Tages von null auf hundert schoss und jetzt wieder bei eins liegt. Russells Zusammenbruch hat sie abstürzen lassen. Die Schlagzeilen wurden wieder von etwas anderem bestimmt.
Vor dem Film, sagt Russell, habe er geglaubt, er könne die Leute von der Wahrheit überzeugen „Ich dachte, wenn wir nur unsere Arbeit gut genug machen, reicht das.“ War es schmerzhaft zu lernen, dass die Welt nicht so funktioniert? „Es hat mich verrückt gemacht.“
Einerseits hat Invisible Children erreicht, was sie wollten: Kony ist heute ziemlich bekannt. Andererseits ist er immer noch auf freiem Fuß. Was antwortet Russell, wenn jemand sagt, er sei gescheitert? „Wir sind gescheitert. Und wir sollten uns so lange fühlen, als hätten wir versagt, bis wir Kony kriegen. Wir haben Schulen wiederaufgebaut und Kindern geholfen, aber unser oberstes Ziel haben wir nicht erreicht, obwohl es machbar wäre. Es ist nur ein einziger Mann, den wir vor Gericht sehen wollen. Wir wollen beweisen, dass keiner sich der gerechten Strafe entziehen kann.“
Dann fügt er noch eine kleine, einfache Frage an. Sie lautet: „Was tust du dafür?“
Carole Cadwalladr schreibt für den Observer vor allem Reportagen und Porträts.
hintergrund
Ein Youtube-Video, über 200 Millionen Zuschauer und die Folgen
Am 5. März 2012 luden Jason Russell und die NGO Invisible Children auf die Plattformen Youtube und Vimeo das 30-minütige Video Kony 2012 hoch. Es war Teil einer Kampagne, die darauf abzielte, den ugandischen Rebellenführer und mutmaßlichen Kriegsverbrecher Joseph Kony bekannt zu machen – und dadurch seine Festnahme und einen Prozess gegen ihn zu erreichen. Innerhalb von sechs Tagen wurde der Film 100 Millionen Mal angeschaut und war das bis dahin schnellste sich verbreitende Internet-Video. Bis heute sollen es über 200 Millionen Zuschauer gesehen haben. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, unterstützte die Kampagne genauso wie Human Rights Watch. Am 23. März 2012 beschloss die Afrikanische Union als Reaktion 5.000 Soldaten zur Ergreifung Konys und zur Bekämpfung seiner Lord’s Resistance Army einzusetzen.
Unmittelbar auf die Veröffentlichung des Videos folgte aber auch heftige Kritik daran – unter anderem aus Uganda selbst. So wurde eine unzulässige Vereinfachung der politischen Situation im Land beklagt. Von den Gräueltaten anderer Kriegsparteien sei keine Rede, stattdessen fokussiere sich alles auf einen Mann. Andere Kritiker betonten, dass Kony und seine LRA seit 2006 nicht mehr in Uganda aktiv seien und dass durch die Veränderung der politischen Lage den Menschen vor Ort durch andere Maßnahmen als die Verhaftung Konys mehr geholfen werden könnte. Zudem wurde dem Film von ugandischen Journalisten eine klischeehafte Darstellungsweise Afrikas vorgeworfen, weil der Eindruck erweckt werde, die Ergreifung Konys könne nur mit westlicher Hilfe gelingen. Am 4. April 2012 ging Invisible Children in einem zweiten Video auf einen Teil der Kritik ein. Joseph Kony ist bis heute ein freier Mann. jap
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