Welchen Grund gibt es, nach fünfzig Jahren Grundgesetz auch des achtzigsten Jahrestages einer Verfassung zu gedenken, die keine fünfzehn Jahre der Realität standgehalten hat? Ich kann mich nicht erinnern, daß es vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren in der Bundesrepublik Veranstaltungen zur Würdigung der Weimarer Reichsverfassung gegeben hätte. Aber vielleicht ist es die nachwirkende Enttäuschung über eine Verfassungsdebatte im frisch vereinigten Deutschland, die nichts anderes gebracht hat als die Demütigung eines Enthusiasmus, der aus Artikel 146 Grundgesetz das Werk einer neuen Verfassung - »von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen« - in Angriff nehmen wollte und von den Bonner Technik
en Bonner Technikern schließlich in den bürokratischen Bei- und Abtritt des Artikels 23 GG gezwungen wurde.Erinnern wir uns, der Verfassungsenthusiasmus kam aus dem Osten unseres Landes, nur von einigen unverbesserlichen Optimisten des Fortschritts im Westen unterstützt. Er wollte aus dem, was viele eine Revolution in ihrem Staat nannten, einen substantiellen Zugewinn an Freiheit und vor allem an Gleichheit für die Gesellschaft des neuen Staates formulieren und in der neuen Verfassung kodifizieren. Eingedenk der Verbindung von Revolution und Verfassung in der europäischen Moderne, stand das Verfassungsprojekt für den sichtbaren Beweis, daß die Geschichte mit dem Untergang der sozialistischen Staaten eben doch noch nicht zu Ende sei. Aber spricht sein definitives Scheitern für das Ende der Geschichte und für die Zwecklosigkeit dieser »nachholenden Revolution«, wie Habermas sie nannte? Ich meine nicht. Auf jeden Fall knüpften die Umwälzungen in den osteuropäischen Ländern gesellschaftspolitisch an das Erbe der bürgerlichen Revolutionen und ihre kapitalistischen Verkehrsformen an und standen verfassungspolitisch in der Tradition der atlantischen Verfassungskultur. Also Grund genug, sich auf diesen Zweiklang von Revolution und Verfassung in der eigenen Geschichte zu besinnen, wo die eigene Gegenwart so wenig Anhaltspunkte dafür liefert.Verfassungen sind im besten Fall Urkunden erfolgreicher Revolutionen, Kodifikationen revolutionärer Kämpfe und ihrer Errungenschaften. Sie ziehen die Summe und schließen ab. Aber sie weisen auch mit ihren Prinzipien, Rechten und Pflichten über sich hinaus auf eine Wirklichkeit, die die Gesellschaft in einem ständigen Prozeß des Fortschritts noch herzustellen hat. Die französische Verfassung wurde auf diesem Weg der Fortentwicklung bereits 1793 gestoppt. Aber das Vermächtnis ihrer sozial-revolutionären Herkunft wirkte auf den ganzen europäischen Verfassungsprozeß der nächsten beiden Jahrhunderte.Republik und VerfassungDie Verwirklichung von Demokratie, Fortschritt und Verfassung stand in Deutschland erst am Ende des vom Kaiserreich ausgelösten Weltkrieges an. Was sich im Herbst 1918 in kurzer Zeit von der Meuterei der Matrosen über den Aufstand der Soldaten und Arbeiter zur Revolution des Volkes ausweitete, setzte nicht nur die Beendigung des Krieges und die Errichtung der Republik auf die Tagesordnung, sondern die ganze soziale Frage. Was am 9. November 1918 noch wie die Proklamation der ganzen Bandbreite der Revolutionären Ziele aussah: Philipp Scheidemann (SPD) rief den Massen von einem Fenster des Reichstagsgebäudes zu: »Arbeiter und Soldaten! Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt. Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die Republik!« Zwei Stunden später verkündete Karl Liebknecht (Spartakusbund/ USPD) im Lustgarten vor dem Berliner Schloß seinen Anhängern die »freie sozialistische Repubik Deutschland« und rief zur »Vollendung der Weltrevolution« auf. Das stellte sich bald schon als das symbolische Urteil über den Mißerfolg auch dieser Revolution heraus: Das Volk gespalten und auf dem Weg zur sozialistischen Republik an der bürgerlichen Ecke stecken geblieben. Aber Republik immerhin!Bleiben wir nüchtern und ehrlich. Was vermochte der revolutionäre Elan der Obleute, von Spartakusbund und KPD gegen die Koalitionen des Rats der Volksbeauftragten, des Ebert-Groener-Paktes und des Stinnes-Legien-Abkommens? Die neue Regierung - der Rat der Volksbeauftragen -, eine Koalition aus Vertretern der Mehrheitssozialdemokraten und USPD, stützte sich vollkommen auf die im Amt belassene Bürokratie, die alten Experten, bis hin zu den Staatssekretären der letzten kaiserlichen Regierung. (Ein deutsches Modell der Kontinuität.) Die Abmachung Eberts mit der Obersten Heeresleitung gegen die »Ausbreitung des terroristischen Bolschewismus«, wie es Hindenburg am gleichen Tag nannte und an alle Heeresgruppen verbreitete, verhinderte wohl einen Bürgerkrieg, aber sicherte der Armee den Status eines Staates im Staate außerhalb parlamentarischer Kontrolle. Und noch am 15. November hatten die Unternehmerverbände den Gewerkschaften die Sozialisierung gegen das Linsengericht des Achtstundentages und der Betriebsräte abgekauft.Damit war die »dialektische Demokratie« wie Ernst Fraenkel, Syndikus des Metallarbeiterverbandes und Rechtsberater beim Parteivorstand der SPD, das Weimarer System später nennen sollte, bereits konstituiert und das Schicksal der zukünftigen Verfassung vorweggenommen: »Die Staatsform des aufgeklärten Hochkapitalismus«, wie Fraenkel sie auch nannte. In ihr war der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit zwar nicht aufgehoben, aber soweit befriedet, daß er die Handlungsfähigkeit des Staates nicht lähmte. Gleichzeitig ließ er die Möglichkeit für die Austragung der gesellschaftlichen Gegensätze und die verfassungsrechtliche Verbürgerung des sozialen Fortschritts immer noch offen.Die Weimarer Reichsverfassung hat diesen Widerspruch kodifiziert - und zwar in ganz besonderer Form. Sie verbürgt die Republik, die allgemeinen und freien Wahlen (zum ersten mal auch für die Frauen), die politischen Freiheiten des Volkes, die Souveränität seiner Vertretung durch das Parlament und die Teilung der Gewalten, ja sogar die Möglichkeit, Gesetze direkt durch das Volk, durch Volksbegehren und Volksentscheid beschließen zu lassen. Doch in den Garantien zur sozialen Frage ist sie ungleich diffuser und unentschlossen: Sie sicherte den Unternehmern die Wirtschafts- und Eigentumsfreiheit und setzte daneben, daß das Reich »für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen« kann (Art. 156). Das sieht wie ein Kompromiß aus, ist aber in Wahrheit das unentschiedene Nebeneinander der beiden antagonistischen Wirtschaftssysteme, denen es in der freien Wildbahn des Marktes überlassen wird, sich gegeneinander durchzusetzen. (Wir kennen das vom Bonner Grundgesetz.)Der bedeutendste sozialdemokratische Verfassungsrechtler Hermann Heller verteidigte auf der Verfassungsfeier des Deutschen Studentenverbandes 1929 die Verfassung vehement gegen linke und rechte Invektiven, indem er auf den disziplinierenden und zivilisierenden Rahmen hinwies, den eine Verfassung den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen aufzwingt: »Gut nennen wir also eine heutige Verfassung, indem sie den geschichtlich unausweichlichen Kampf in kulturermöglichende Formen bringt, den schöpferischen Kräften aber die Freiheit zur Gestaltung einer schöneren Zukunft läßt.« Lassen wir einmal dahingestellt, inwieweit eine derartige Äußerung drei Jahre vor dem Untergang der Republik eher eine Beschwörung denn eine Festellung ist. Wo Bürgertum und Arbeiterklasse gleichsam in einem politischen Patt einander gegenüberstehen, ist in der Tat die Sicherung eines demokratischen gesellschaftlichen Verfahrens, an das sich die »unausweichlichen Kämpfe« zu halten haben, keine zu verachtende Leistung einer Verfassung. Doch hat das Weimar geschafft?Demokratie und VerfassungWenden wir uns dem unglücklichen Ende der Republik und dem weitverbreiteten Vorwurf der Mitverantwortung der Verfassung für den Untergang der ersten deutschen Demokratie zu. Es ist historisch ebenso sinnlos, die Verfassung von 1919 für die steigende Flut antidemokratischer Kräfte - ja nicht nur der Nationalsozialisten - und ihre brutale Entschlossenheit, die Demokratie zu beseitigen, verantwortlich zu machen, wie es aktuell unsinnig ist, das Grundgesetz und das Völkerrecht selbst für ihre Verletzung durch eine große Koalition bürgerlicher Parteien zu schmähen. Dennoch gibt es verfassungsrechtliche Institutionen und normative Weichenstellungen, die diesen Kräften den Weg der Zerstörung erleichtern und sogar mit einem Schein der Legalität versehen können.Den bürgerlichen Parteien war es nämlich in der Nationalversammlung gelungen, eine »Nebenverfassung« in die Reichsverfassung mit einzubauen. Sie sicherte eine anti-parlamentarische Reserve ab, deren autoritäre Dynamik allerdings schon nach kurzer Zeit ihre Betreiber und Nutznießer selbst mit in den Strudel diktatorialer Säuberungs- und Willküraktionen riß. Dies war in erster Linie der sogenannte Notstandsartikel 48, der die geradezu unantastbare außerparlamentarische Machtstellung des Reichspräsidenten begründete. Auf sieben Jahre durch eine Volkswahl mit einer demokratischen Legitimation versehen, verfügte er über eine praktisch unbegrenzte Kompetenz zur Auflösung des Reichtstags (Art. 25) und zur Ernennung des Reichskanzlers und der Reichsminister ohne parlamentarische Mitwirkung. Seit 1932 setzte er mit diesem Besteck die Volksvertretung faktisch außer Kraft. Er konnte zudem die Reichswehr, die seiner alleinigen Kommandogewalt unterstand, gegen ein Land einsetzen, das »die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllte«, und sie zur »Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« einsetzen. Zu den Maßnahmen des Art. 48 gehörte auch der Erlaß von Verordnungen, mit denen er das Parlament von der Gesetzgebung ausschalten konnte. Tatsächlich wurde in der Weimarer Republik nur in den Zeiten, in denen die Wirtschaft nicht von der Krise geschüttelt wurde, nach der Normalverfassung regiert. Das rapide Abgleiten in die Nebenverfassung Anfang der dreißiger Jahre und ihr bruchloser Übergang in die Nazidiktatur war eine voraussehbare Konsequenz.ResümeeDie Weimarer Verfassung fiel zweifellos in eine Epoche, die trotz Krieg, Revolution und ökonomischer Krise immer noch zur Wachstumsphase des Kapitalismus zählte. Erst jetzt lösten sich die letzten Überreste des feudalen und halbfeudalen Systems auf. Und das Bürgertum erhielt seine volle und seiner ökonomischen Macht entsprechende Stellung, als man ihm voreilig schon das Ende seiner Geschichte verkündete. 1919 sah man zweifellos zu Recht in Deutschland die stärkste Bastion des kontinentalen Sozialismus und unterschätzte die dahinter sich auftürmenden Festungsmauern des Bürgertums. Die Arbeiterbewegung erkämpfte zwar die Prinzipien und Verfahren der politischen Demokratie, die Raum für die Organisation einer neuen Sozialordnung gab. Aber sie unterminierte selbst den gesellschaftlichen Neuanfang, indem sie den bürgerlichen Organisationsapparat mit seiner Bürokratie von den alten Funktionärseliten übernahm. Nur im Grund rechtsteil konnte sie die Option für eine neue Sozialordnung offenhalten. Die wurde ihr aber schon bald - gleichsam hinter ihrem Rücken - durch die Justiz wieder entzogen.Von links ist der Verfassung noch zur Zeit ihrer Gültigkeit vorgeworfen worden, sie habe sich nicht entschieden. Sie unterliege dem Irrtum, »daß die Prinzipien der Demokratie allein bereits die Prinzipien einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Ordnung seien«. »Am Ende des bürgerlichen Zeitalters, als jene denkwürdigen Institutionen wie Rechtsstaat, bürgerliche Bildung, richterliche Unabhängigkeit und Meinungsfreiheit durch die spezifischen Lebensbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems ihren eigentlichen Sinngehalt verloren, hätte die Demokratie nur noch ein eindeutiges Bekenntnis zu einem inhaltlichen Organisationsprinzip der Gesellschaft, dem Sozialismus, neu zu beleben vermocht.« (Kirchheimner)Ob Ende oder Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters, die rechtsstaatlichen Institutionen sind in ihm immer gefährdet und müssen verteidigt werden. Es ist aber ein Fehlschluß, von der Verfassung die Inhalte und Organisationsprinzipien einer neuen Gesellschaftsordnung zu verlangen, wenn die Revolution nicht die Kräfte freisetzt, die diese neue Ordnung durchzusetzen in der Lage ist. Weimar hat gezeigt, daß die demokratischen Kräfte noch weit schwächer waren, daß sie nicht einmal die Angriffe auf ihre eigenen Existenzbedingungen in der bürgerlichen Ordnung abwehren konnten. Was bereits 1919 im Wahlergebnis zur Nationalversammlung sich andeutete und in der Verfassung nur zu einem äußerst labilen Kompromiß mit einer gefährlichen Nebenverfassung ausreichte, war in den folgenden Jahren nicht umkehrbar zugunsten der fortschrittlichen Kräfte. Das aber war nicht der Weimarer Verfassung anzulasten.Ich schließe mit einer einzigen Lehre aus Weimar, die gerade heute von großer Aktualität ist: die Verteidigung der Legalität, von Verfassung und Völkerrecht, ist eine Grundbedingung für unsere demokratische Existenz.Gekürzte Fassung einer Rede, gehalten am 18. April im Nationaltheater zu Weimar auf einer Veranstaltung »80 Jahre Weimarer Verfassung«.
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