An die Wand gedrückt

Keine Veränderungspotenziale Detlef Hensche, langjähriger Vorsitzender der IG Medien, über seinen Austritt aus der SPD und über die Versäumnisse der Gewerkschaften in einer gleichgeschalteten Republik

FREITAG: Herr Hensche, warum sind Sie nach 40-jähriger Mitgliedschaft aus der SPD ausgetreten?
Detlev Hensche: Auslöser war der Sonderparteitag am 1. Juni, der die Agenda 2010 abgesegnet hat. Ich sehe darin eine Verabschiedung der SPD von sozialer Verantwortung für Arbeitslose und von dem selbstgesetzten und in meinen Augen auch selbstverständlichen Auftrag, die Arbeitslosigkeit durch eine sozial orientierte Wirtschaftspolitik zu überwinden. Wer der Agenda 2010 zustimmt und darauf verzichtet, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, überlässt im Grunde die Arbeitslosen ihrem Schicksal. Die Agenda 2010 ist ein Programm gegen die Arbeitslosen, sie wird keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen. Sie ist ein Verarmungsprogramm, auch zu Lasten der öffentlichen Hände. Die Rolle des Staates wird im Kern darauf reduziert, die Interessen derer zu bedienen, die über Vermögen verfügen.

Nur wer drin bleibt, kann auch etwas verändern. Haben Sie keine Lust mehr, etwas zu verändern?
Ich sehe in der SPD keine Veränderungspotenziale. Ich sage das trotz aller respektablen und mutigen Bemühungen der Linken in der SPD, die das Mitgliederbegehren initiiert haben. Das ist nicht gering zu schätzen. Aber ich sehe da nicht die Kraft, die Impulse setzen könnte für eine Erneuerung der SPD.

Ist ihr Austritt die Individualisierung von Widerstand?
Was ich getan habe, ist kein Widerstand, das ist eine individuelle Entscheidung. Ich muss hinzufügen, dass ich in der SPD nie Mandate hatte. Wegen meiner Gewerkschaftsarbeit konnte und wollte ich keine Parteimandate. So sehe ich auch individuell für mich keine Möglichkeit, etwas in der Partei zu verändern. Ich halte dies auch für aussichtslos.

Setzen Sie sich jetzt auf die Terrasse und verabschieden sich gänzlich aus dem politischen Raum?
Das muss nicht gleichbedeutend sein. Ich sehe nach der Entwicklung in der SPD und im übrigen auch bei den Grünen derzeit keinen Anknüpfungspunkt in den politischen Parteien für eine sozial orientierte und demokratische Wende hin zu einer emanzipatorischen Politik. Insofern setze ich eher auf neue Formen der Politisierung im vorparlamentarischen Raum. Die notwendige Radikalität der Fragestellung sehe ich in außerparlamentarischen Initiativen, kaum dagegen bei den gegenwärtigen Parteien.

Sie waren über 40 Jahre innerhalb der Gewerkschaften tätig und gehörten auch immer zu denen, die sagten, die Gewerkschaften müssen mehr sein als nur "Tarifmaschinen" und auch ein gesamtgesellschaftliches Mandat wahrnehmen. Das ist nur bedingt gelungen, wie sehen Sie das im Rückblick?
Dass Gewerkschaften mehr tun müssen als Tarifverträge abschließen und Betriebsräte unterstützen - diese Weisheit ist 150 Jahre alt. Über die originäre Aufgabe hinaus, durch Tarifpolitik Arbeitsbedingungen zu regeln, haben sich Gewerkschaften immer auch als politische Bewegung verstanden. Ob sie diesem selbst gesetzten Anspruch gerecht geworden sind, das ist eine andere Frage. Wenn ich die vergangenen zehn Jahre Revue passieren lasse, sind die Gewerkschaften im Kern nicht aufmüpfiger gewesen als in der noch weiteren Vergangenheit. Umgekehrt waren sie aber auch nicht zurückhaltender. Es gab jede Menge politische Einmischung: zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der Kohl-Regierung 1996, als es um die Beschneidung des Kündigungsschutzes und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ging. In Bonn haben 350.000 Menschen demonstriert.

Die gewerkschaftliche Mobilisierung gegen die Agenda 2010 war nicht annähernd so erfolgreich wie 1996.
Man muss sich daran erinnern, dass die Auseinandersetzung in Bonn eine Antwort auf das gescheiterte Bündnis für Arbeit war. Damals gingen die Gewerkschaften bis zur Schmerzgrenze, um mit der schwarz-gelben Regierung zu kooperieren. Aber Kohl hat sie rüde abgewiesen. Aus dieser Enttäuschung heraus ist im Zorn und mit großer Beteiligung die Kundgebung gelungen. Das war eine wichtige Manifestation gewerkschaftlicher Eigenständigkeit und Gegenwehr. Gegenwärtig scheint die Mobilisierung wohl deshalb schwieriger, weil der DGB offenkundig in der Frage, wie wir mit einer Regierung beziehungsweise mit einer Partei umgehen, die in den vergangenen Jahrzehnten Verbündete zu sein schien, gespalten war und nach meiner Beobachtung immer noch ist. In solchen Situationen wird immer die Frage gestellt, wo die Alternativen liegen. Die "Logik des kleineren Übels" ist in Konfliktsituationen immer vorhanden: Wem nützt mein Protest gegen eine in ihrem Selbstverständnis den Arbeitnehmern nahestehende Regierung? Am Ende der Opposition? Doch eine solche Logik des kleineren Übels halte ich für völlig falsch. Wer die noch dreisteren Abbruchpläne von CDU/FDP verhindern will, muss erst Recht gegen den sozialpolitischen Unfug von Rot-Grün Front machen. Beides bedingt sich doch. Die Politik der Bundesregierung ist geradezu eine Einladung an die Opposition, auf jeden Vorschlag noch einen drauf zu satteln, in einer Schamlosigkeit, zu der sie als Regierung nicht im Stande wären.

Spielt da nicht auch die SPD-Bindung der meisten Gewerkschaftsoberen eine Rolle, auch wenn der IG Bau-Vorsitzende Klaus Wiesehügel und ver.di-Chef Frank Bsirske dagegen halten?
Den Konflikt, den Wiesehügel mit der SPD austrägt, hat Bsirske in Grün mit seiner Partei. Ich bin mir nicht sicher, ob der Blick auf die Gewerkschaftsvorstände ausreicht. Vergessen Sie nicht, dass es auf den mittleren Ebenen zahllose Aktivistinnen und Aktivisten gibt, die auf Grund traditioneller Bindungen Sozialdemokraten sind. Für viele stellt sich erst jetzt in aller Schärfe die Frage nach der gewerkschaftlichen Autonomie. Sie am 1. Mai rhetorisch zu beschwören, ist das eine, sie im konkreten Konflikt mit einer SPD-geführten Bundesregierung zu praktizieren, ist das andere, ungleich schwierigere Geschäft. Da gilt es Brüche und Konflikte auszuhalten, auch in der eigenen Mitgliedschaft. Die notwendige Emanzipation von einer ehemals verbündeten Partei hin zur gewerkschaftlichen Autonomie - und egal, wer regiert, gegenüber allen Parteien - wird daher mit Schmerzen, Widersprüchen und internen Konflikten verbunden sein.

Derzeit erleben wir eine regelrechte Hetze auf die Gewerkschaften. Können Sie sich an ähnliche Kampagnen erinnern?
So wie die Gewerkschaften derzeit im Kreuzfeuer stehen, das stellt alle Erfahrungen vergangener Zeiten in den Schatten. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Triumph neoliberaler Politik auf allen öffentlichen Märkten, in allen Medien, in allen politischen Zirkeln zu spüren ist. Wer dem widerspricht, wird an die Wand gedrückt. Ich beobachte eine bedrückende Konformität. In beinahe allen Parteien und auf allen Ebenen, selbst in den Gemeinden, obwohl die selbst Opfer dieser Politik sind. Es gibt inzwischen eine Staatsreligion, die heißt neoliberale Umverteilung.

Andere nennen das Gleichschaltung.
Für die wirtschaftspolitische Berichterstattung und Kommentierung gebe ich Ihnen recht. Das bedenkenlose Bekenntnis zum Markt und zur Privatisierung, auch zur Entsolidarisierung und zur Ungleichheit ist ein allgemeines Credo. Dagegen in den Medien aufzubegehren, ist nicht ganz einfach. Wer im Wirtschaftsteil der Zeitung andere Akzente setzt, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen, weil er vermeintlich verstaubten Vorstellungen anhängt.

Sehen Sie irgendwo relevante Gegenkräfte?
Noch sind die Gegenkräfte weit davon entfernt, diesen Kurs mit Überzeugungskraft und eigenen Alternativen entgegenzutreten. Wichtig ist vor allem, aus der Ecke des verstaubten Traditionsbewahrers herauszukommen. Nicht in dem Sinne, dass das, was die Gewerkschaften vertreten, veraltet und deshalb falsch wäre. Veraltet sind neoliberale Modelle. Sie weisen in ihrer erschreckenden Naivität ins 18. Jahrhundert zurück. Entscheidend scheint mir zu sein, dass im Kampf um die Köpfe ganz bestimmte Formen und Gestaltungsprinzipien zum Beispiel der sozialen Sicherungsprinzipien oder der arbeitsrechtlichen Verlässlichkeit sich fortentwickeln müssen - auch im Dialog mit Menschen, die den Gewerkschaften tendenziell fern stehen. Arbeitsbedingungen, Erwerbsbiografien, Geschlechterverhältnisse - all diese Veränderungen zu begleiten, arbeitsrechtlich, politisch, sozialpolitisch, ist die Hauptaufgabe der Gewerkschaften. Da tun wir uns nach wie vor schwer. Wir können nicht nur die historisch gewachsenen Systeme fortschreiben, sie müssen weiter entwickelt werden, beispielsweise durch die Verbreiterung der Finanzbasis statt durch Kahlschlag der Leistungen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass an einem kalten Wintertag eine halbe Million Menschen gegen einen noch nicht begonnenen Krieg in einem fernen Land protestieren und gegen den Krieg im Inneren sich nur marginaler Protest regt?
Ich denke, beim Irak-Krieg hatten wir es mit einer anderen Schicht zu tun: Da war mehr oder weniger das aufgeklärte Bildungsbürgertum auf der Straße. Die Empörung gegen die "Koalition der Willigen" und ihre Lügen war sehr eindeutig. Sie waren leichter durchschaubar als die Vernebelung der neoliberalen Politik.

Lassen sich trotzdem Lehren ziehen?
Was die Bündnisfähigkeit anbelangt, ganz sicherlich. Die Gewerkschaften waren ja Teil der Bewegung gegen den Irak-Krieg. Frank Bsirske, Michael Sommer und andere Funktionäre haben auf Kundgebungen gesprochen. Als soziale Bewegung müssen die Gewerkschaften Bündnisse pflegen, zum Beispiel mit den Kirchen und auch mit den Städten und Gemeinden. Denn in den Kommunen zeigen sich die desaströsen Folgen der aktuellen Politik. Hier und da regt sich bereits Widerstand gegen die Privatisierungsbesessenheit. In Hamburg wurde ein Volksbegehren gegen die Privatisierung kommunaler Krankenhäuser auf den Weg gebracht, in anderen Städten sind solche Plebiszite ebenfalls zu beobachten. Im unmittelbaren Umfeld der Bürger lassen sich die Dogmen der Politik entzaubern. Und wenn Sie dann noch nach Österreich und Frankreich schauen, da ist das Rententhema ein Volksthema. Die Beispiele Österreich und Frankreich sollte uns Anlass sein, andere, weitergehende Aktionsformen ins Auge zu fassen. Protest- und Demonstrationsstreiks sind in anderen europäischen Ländern nicht nur gang und gäbe, sondern auch Bestandteil der Verfassungsordnungen. Mir scheint, es ist an der Zeit, sich dieses demokratische Recht wieder zurückzuerobern.

Das Gespräch führte Günter Frech

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