Der Freitag: Wie sah der Rechercheweg in Afghanistan aus?
Marcel Mettelsiefen: In Afghanistan ist es immer eine Herausforderung, an Leute ranzukommen, die wir für eine Geschichte brauchen. Man braucht Übersetzer, denen man traut, jemanden, der ein gutes Netzwerk hat, und in diesem speziellen Fall auch jemanden, der in die Provinzen gehen kann. Zu der Zeit konnten wir das nicht, wir hätten unser Leben riskiert. Ein gutes Netzwerk hatten wir, da wir schon öfter in Kunduz waren. Wir haben unsere Kontakte dann gebeten, die Bürgermeister und die Dorfältesten anzusprechen und haben sie aufgefordert, Familienmitglieder, die Angehörige verloren haben, nach Kunduz-Stadt zu bringen.
Die Kontaktleute haben also eine Vorauswahl getroffen?
Wir wussten, dass es vier oder
Die Kontaktleute haben also eine Vorauswahl getroffen?Wir wussten, dass es vier oder fünf Dörfer waren, aus denen die meisten Leute kamen. Wir haben also diese Dörfer angefragt und sie gebeten, uns eine handvoll Mensch zu schicken. Am nächsten Tag kamen dann weitere, immer in 10er oder 20er Gruppen nach Kunduz-Stadt, wo wir sie dann befragt, interviewt und fotografiert haben.Wie lange haben die Recherche und Kontaktaufnahme gedauert?Das war recht schnell gemacht. Die Schwierigkeit bestand eher darin, herauszufinden, wer auf der Liste der Opfer sein „durfte“ und wer nicht. Wir haben versucht, den Menschen klarzumachen, dass wir keine Vertreter der Regierung, sondern Journalisten sind. Journalisten, die die Geschichte derer erzählen wollen, die dort zu Tode kamen. Wir haben außerdem gesagt, dass, wenn Deutschland irgendwann Entschädigung zahlen sollte, sie sich anhand der Liste orientieren. Sollten darauf dann Namen stehen, die nicht drauf gehören, würden alle riskieren, kein Geld zu bekommen. Insofern fingen die Leute an, mit uns die Namen von der Liste zu streichen, die nicht drauf gehörten.War die Motivation der Porträtierten also die Aussicht auf Geld?Am Anfang war das schon die Motivation. Sie wussten, dass sie da auf Geld spekulieren können. Aber sie merkten irgendwann, wir kommen immer mit leeren Taschen an. Die Menschen haben sich dann gefragt, „warum wollt ihr all diese Sachen wissen? Das haben wir doch schon Vertretern der Regierung, des Roten Kreuzes, ISAF erzählt, um die Listen zu erstellen“. Deshalb gab es übrigens auch die vielen verschiedenen Opferzahlen zwischen 17 und 142 Toten. Christoph Reuter und ich sind aber gekommen, haben angefangen zu fragen, sind wiedergekommen und wiedergekommen, so dass die Menschen gemerkt haben: Wir meinen es ernst, wir sind informiert. So fassten die Menschen vertrauen und merkten, dass wir wirklich an den Geschichten interessiert sind.Wussten die Menschen um die Bedeutung des Themas in Deutschland?Ich glaube nicht, dass die Menschen dort jemals wirklich begriffen haben, was uns die Geschichte wirklich bedeutet. Dass wir extra aus Deutschland ankommen und das gleich mehrere Male und warum. Sie verstehen die Dimensionen nicht, die das Thema in Deutschland hat. Das ist für sie eine reine innerdeutsche Debatte. Vor allem haben die Menschen auch die Auswirkungen der Debatte hierzulande nicht verstanden. Aber sie haben uns vertraut, dass wir es ernst meinen.Haben sich die Menschen bereitwillig fotografieren lassen? Am Anfang waren die alle sehr skeptisch. Die Gesellschaft dort ist sehr konservativ, die Menschen lassen sich sowieso sehr ungern fotografieren. Irgendwann hat sich dann doch einer bereiterklärt, fotografiert zu werden, ein zweiter kam dazu und ab dem vierten oder fünften wurde es dann immer einfacher.Warum sind keine Frauen unter den Porträtierten?Klar gibt es zu jedem Vater, jedem Sohn, eine Mutter, eine Ehefrau oder eine Schwester. Aber an diesem Abend sind wirklich nur Männer gestorben. Um zwei Uhr morgens würde sich niemals eine Frau dort aufhalten. Was wir gut in der Rekonstruktion nachweisen konnten, ist der Grund, warum überhaupt Zivilisten da waren. Erst einmal natürlich aus Neugier. Dann, als die Tanklastwagen gegen 22 Uhr zur Plünderung freigegeben wurden, natürlich um das Diesel zu holen. Man kann mit kompletter Sicherheit davon ausgehen, dass keine einzige Frau da war.Und auch die weiblichen Angehörigen wollten sich nicht fotografieren lassen?Ich bin ein Mann, Christoph Reuter ist ein Mann, wir können also auch nur Männer treffen. Es geht sogar so weit, dass ein Vater, leider Gottes muss man das sagen, eher den Tod einer Tochter in Kauf nehmen würde, als sie bei einem männlichen Arzt untersuchen zu lassen. Fotografien von Frauen sind in der islamischen Welt sowieso schwierig und speziell dieser Region zu dieser Zeit komplett unmöglich.Die Menschen kamen zu mir, nachdem sie von Christoph Reuter interviewt wurden und befanden sich mental noch in diesem Gespräch. Sie kamen in das Zimmer, in dem sich nur ein Stuhl in der Mitte befand. Nach einer Minute sind die dann auch schon wieder gegangen. Da gab es keine Requisiten. Die Afghanen ziehen sich alle gleich an. Es gibt immer die gleiche Grundausstattung, die sich nur in der Farbe unterscheidet. Die afghanische Kleidung ist von den Porträtierten auch als ganz klares Statement gemeint.Das Interview führte Anna-Lena Krampe