An Hundts Leine gezerrt

Münteferings Programmrede Wer auf das Grundgesetz hinweist, muss mit schärfster Kritik rechnen

Soweit ist die politische Debatte schon heruntergekommen, dass man Schlagzeilen liest, wenn ein führender Politiker - dazu noch in einer abgehobenen Programmdebatte - die Rolle des Staates in der Demokratie und das Spannungsverhältnis von Staat und Markt anspricht. Hat Franz Müntefering aber wirklich einen neuen Akzent gesetzt, der wütende Kritik aus dem Unternehmerlager nachvollziehbar machen könnte?

Dem vorherrschenden marktradikalen Dogma entsprechend, ist es in den vergangenen Jahren üblich geworden, den Markt und den Wettbewerb zu idealisieren und den Staat als unfähigen bürokratischen Moloch zu beschimpfen. Rückführung der staatlichen Aufgaben, vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge, Senkung der Staatsquote und der Steuern, Privatisierung, Deregulierung, Entstaatlichung sind zu gängigen Parolen in Politik und Medien geworden. Ronald Reagan war es, der Anfang der achtziger Jahre das Bild vom Staat als gierige "Bestie" prägte. Die Kampfparole der Reagonomics "Starve the beast" wurde auch in Deutschland zum politischen Schlachtruf. Täglich kann man Kommentare hören, die Müntefering zu Recht kritisiert hat: "Mancher putzt sicher gerne die Füße an ihm (dem Staat) ab und macht ihn zum Synonym für eine Krake und für Bonzen, für Bürokratie und für Unfähigkeit. Manche reden aus Gedankenlosigkeit abfällig über ihn, andere auch gezielt. Sie fordern den schlanken Staat und wären doch nicht böse, wenn er denn verhungerte. Ja, sie legen es darauf an."

Dass Demokratie "Staat braucht", und dass "Staat mehr als nur ein Reparaturbetrieb" ist und eine "Gestaltungsaufgabe" hat, ist zwar trivial, hat aber, wenn man die Reaktionen auf die Müntefering-Rede hört, offenbar Neuigkeitswert. Wenn der SPD-Vorsitzende den "Primat der Ökonomie" kritisiert, weil Ökonomie bestenfalls "indirekt auf das Sozialwesen Mensch" zielt, dann spricht er eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit aus. Die prompten Reaktionen etwa von Arbeitgeberpräsident Hundt und Ifo-Chef Sinn - Deutschlands "klügstem Wirtschaftsprofessor" (Bild) - zeigen, wie degeneriert die öffentliche Debatte inzwischen ist.

"Realitätsferne" wirft Hundt dem SPD-Chef vor, und der betriebsblinde Ökonom Sinn meint: "Die Entrüstung über die Gesetze des Kapitalismus ist müßig. Auch wenn diese Entrüstung die Fallgesetze beträfe, hätte Gott dafür nur ein müdes Lächeln übrig." An beiden Einlassungen kann man ablesen, in welch einer fundamentalistischen, ja sogar totalitaristischen Scheinwelt Leute ihres Schlages denken und handeln. Alles, was nicht mit Arbeitgeberinteressen übereinstimmt, ist unrealistisch. Sinn macht den Kapitalismus gar zu einem Element der göttlichen Weltordnung. Sein gedankliches Eigentor bemerkt er nicht: Gerade wenn der Kapitalismus wie ein physikalisches "Fallgesetz" wäre, müsste die Gesellschaft doch alles tun, um nicht erschlagen zu werden. Demokratie hat sich in solchem Denken den "Gesetzen des Kapitalismus" blind zu unterwerfen.

Tatsächlich hat Müntefering nur gesagt, was jeder im Grundgesetz nachlesen kann: Dass unser Staat ein Rechtsstaat ist, das Gewaltmonopol besitzt und ein Sozialstaat sein sollte. Er hat die kaum zu bestreitenden "international forcierten Profit-Maximierungsstrategien" und die "international wachsende Macht des Kapitals" als eine Gefahr für die Demokratie kritisiert. Und er hat darüber hinaus - absolut linientreu - die Agenda-Politik verteidigt, wenn er etwa die soziale Sicherung über einen Mix aus Beiträgen, Steuern und individueller, privater Vorsorge finanzieren will. Nichts Neues also. Weder hat er eine aktivere Rolle des Staates in der Konjunktur- oder in der Finanzpolitik gefordert, noch eine gerechtere Verteilung des Volksvermögens, eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik oder eine Abkehr von den Senkungen der Unternehmenssteuer angemahnt. Müntefering hat lediglich ein bisschen auf die Macht des Kapitals hingewiesen und das Grundgesetz verteidigt. Aber schon das genügt inzwischen in Deutschland, um sich den Vorwurf der "Klassenkampf-" (Spiegel) oder der "Kriegsrhetorik" (Süddeutsche Zeitung) einzufangen. Soweit hat sich die "Realität" des Herrn Hundt schon in den Köpfen breit gemacht und sich von unserer Verfassung und der Wirklichkeit entfernt.

Wolfgang Lieb war bis 2000 Staatssekretär im Wissenschaftsministerium von NRW und vorher Sprecher des Ministerpräsidenten Johannes Rau.


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