Analog ist futuristisch

Tocotronic Vor 20 Jahren gründeten drei Studenten in Hamburg die Band Tocotronic. Wenn das kein Anlass ist, sentimental zu werden – dachten wir. Dirk von Lowtzow und Jan Müller

Der Freitag: Diese Ausgabe steht unter dem Leitmotiv „Was früher alles besser war“. Und wir sammeln nun fleißig Belege für diese These.

Dirk von Lowtzow: Falsche These.

Wir dachten, Tocotronic passen da ganz gut rein.

Jan Müller: Ob das ein Kompliment ist?

Sie feiern im Januar 20-jähriges Bandjubiläum. Und wir haben gelesen, dass Sie Ihr neues Album mit analoger Aufnahmetechnik aus den fünfziger Jahren aufgenommen haben.

Lowtzow: Die Idee unseres Produzenten Moses Schneider war, mit diesem Uralt-Equipment einen futuristischen Sound zu erzeugen. Es war also gerade keine Entscheidung aus Nostalgie-Gründen. Sondern weil wir einen Sound machen wollten, der bewusst nicht retro-mäßig klingt. Retro-Sound wird ja heute mit modernster Technik hergestellt, um den Stücken eine Patina zu verleihen.

Warum kann man aber mit analoger Technik futuristischer arbeiten?

Lowtzow: Sagen wir es mal so: Die futuristischen Welten, die Stanley Kubrick 1968 für 2001: Odyssee im Weltraum erschaffen hat, sind immer noch unerreicht, obwohl dieser Film mit ganz alter Technik gemacht wurde. Wenn man klanglich eine gewisse Spaceyness und Dreaminess erzeugen will, dann ist das witziger Weise immer noch am besten mit den alten Gerätschaften umsetzbar, die in den alten Studios sind.

Ist nicht genau das Retro-Futurismus? Oder haben wir da etwas falsch verstanden? Der Citroen DS war seinerzeit doch auch in die Zukunft gedacht. Wenn wir das Auto heute sehen, sehen wir beides: die Vergangenheit und die Zukunft dieser Vergangenheit.

Lowtzow: Retro-Futurismus wäre, wenn das Ergebnis wie das Raumschiff Orion aussähe. Wir haben die Vorzüge dieser alten Technik mit den Vorzügen der heutigen Technik verbunden. Der Gesang wurde ja nicht nur per Band aufgenommen, sondern auch digital. Die Leute, die damals mit der Technik gearbeitet haben, hatten viele Defizite und mussten deshalb sehr kreativ und fantasievoll mit diesen Beschränkungen umgehen. Wir konnten uns deren Erkenntnisse zunutze machen.

Dass limitierte technische Möglichkeiten die Fantasie anregen, kennt man ja von der Fanzine-Kultur. Man hat die schlechte Schwarz-Weiß-Qualität benutzt, um eine spezielle Ästhetik zu kreieren. Heute, wo man viel mehr Möglichkeiten hat, geht ein bisschen der Zwang zum Kreativsein verloren.

Jan Müller: Da würde ich gleich widersprechen. Wenn man das Fanzine als Medium von jungen Menschen nimmt, geschieht da ja heute eine Menge auf einer anderen Ebene. Wenn ich jetzt jung wäre, würde ich mich bestimmt auch nicht mehr an den Kopierer stellen.

Lowtzow: Gerade in unserer Gesellschaft mit ihrer neoliberalen Ökonomie gibt es ja einen Zwang zum Kreativsein, deshalb würde ich der These an sich schon widersprechen. Was Sie aber ansprechen, meinte auch unser Produzent: Es gibt eine gute Sache an der Limitierung dieser Vierspuraufnahme, man muss sich vorher entscheiden, wie man die Soundarchitektur des Stückes haben möchte.

Müller: Und natürlich haben diese alten Aufnahmegeräte eine gewisse Aura, wie eine Vinyl-Schallplatte. Es ist einfach angenehm, sich damit zu umgeben, das ist schöner, als vor dem Computer zu sitzen. Für mich – in der Hinsicht bin ich vielleicht tatsächlich ein sentimentaler Mensch – ist es auch ein ästhetischer Mehrwert, den man da ausnützt.

Lassen Sie uns über die jüngere Vergangenheit sprechen. War Musik früher politischer? Ich denke da an die Wohlfahrtsausschüsse, in denen sich Anfang der Neunziger viele Künstler, Theoretiker und vor allem auch Musiker gegen Neofaschismus zusammengeschlossen haben.

Müller: Die Wohlfahrtsausschüsse fanden statt, bevor wir als Band wirklich aktiv wurden. Ich persönlich fand sie ohnehin eine etwas merkwürdige Geschichte, aber das würde hier zu weit führen. Dabei kommen wir schon aus einer Art Polit-Ecke. Zumindest unser Schlagzeuger Arne Zank und ich waren in der linken Polit-Szene verwurzelt, bevor es die Band gab. Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass Musik heute weniger politisch ist. Das müsste ein Soziologe beantworten.

2005 gab es die Initiative „I can’t relax in Deutschland“. Auf dem gleichnamigen Sampler sind Sie mit „Aber hier leben, nein danke“ vertreten. Seither ist mir nichts Vergleichbares mehr aufgefallen.

Lowtzow: Das hängt auch von den Anlässen ab. Bei „I can’t relax in Deutschland“ war es die Renationalisierung, auf die wir reagiert haben. Diese ganzen Werbekampagnen wie „Du bist Deutschland“.

Aber es gäbe doch auch im Moment wahnsinnig viel Anlass zu reagieren.

Lowtzow: Es gibt ja auch ganz viele Bands, die sich politisch äußern und die kritisch sind. Wir machen jetzt für die Tour eine Kooperation mit „Pro Asyl“, das finde ich einen wichtigen Anlass, gerade weil das Thema Asyl und europäische Grenzen von den Medien relativ unbeachtet ist. Natürlich gibt es immer Anlässe. Ich kann ehrlich gesagt mit dieser ganzen Fragestellung, „Früher war alles besser und jetzt ist alles anders“, nichts anfangen. Nostalgie ist für mich etwas, da stehe ich drei Meter von entfernt.

Wir haben einen schweren Stand. Kaum jemand will sich affirmativ zur Nostalgie bekennen.

Lowtzow: Das kann ich nicht unterschreiben. Ich habe das Gefühl, die Zeiten und die kulturellen Erzeugnisse sind doch total von einem nostalgischen Bewusstsein geprägt. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es in der Literatur doch wieder ein Bedürfnis große Erzählungen zu schaffen, Geschichten zu erzählen. Es gibt eine große Abkehr von experimentellen Formen. Es gibt einen totalen Backlash, wenn es um Geschlechterbeziehungen geht. Es gibt doch überall eine totale Sehnsucht nach Nostalgie und nach verteilten Rollen.

Ich bin mit 15 zum ersten Mal zu einem Punk-Konzert gegangen. Wir haben Bands gegründet, das ging gut, bis wir 20 waren, dann hat sich diese Bewegung langsam in Luft aufgelöst, und man musste sich mit auflösen und weitergehen. Aber etwas ist hängengeblieben. Nicht nur bei mir, glaube ich, hat sich so ein Art Wahn herausgebildet: 1977 war eine paradiesische Zeit, alles, was danach kommt, ist Verfallsgeschichte. Da kann noch so viel passieren. Und das ist wie bei jedem Wahn, man kann es nicht widerlegen.

Müller: Da ist natürlich was dran. Ende der siebziger Jahre kam viel zusammen, und die Zeichen standen günstig. Aber solche Zeiten gibt es immer wieder. Schauen Sie mal in die zwanziger Jahre.

Völlig richtig.

Müller: Aber es gibt auch andere tolle Sachen. In der Kaiserzeit gab es Paul Scheerbart, der völlig allein vor sich hin gearbeitet hat. Ich finde es immer ein bisschen ungerecht, bestimmte Zeiten zu verklären. Umgekehrt mal: Ein Freund von mir, der hat eine sehr starke Neigung zu 1977, der meinte, Musik vor 1977 interessiert ihn nicht. Es geht also auch ohne Nostalgie.

Wir wollen ja auch niemanden in eine Ecke drängen.

Lowtzow: Das hat auch mit dem persönlichen Geschmack zu tun. Es mag Leute geben, für die Detroit-Techno ein Erweckungserlebnis war. Dann könnte man dieselbe Erzählung auf elektronische Musik anwenden. Oder der klassische Musiker würde sagen: Ich habe noch Le Sacre du Printemps in Paris miterlebt, und das war ja wirklich noch ein Skandal. Deswegen finde ich es ein bisschen schwierig, da allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten.

Völlig korrekt. Ich vermute aber, dass dieser Typus relativ häufig in der Pop-Welt herumläuft und der nervt Sie als Band natürlich auch, weil er einen nicht weiterbringt und diese Haltung nicht wirklich kreativ ist.

Müller: Wir werden als Band oft damit konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Eigenart von Fans ist zu sagen: Ja, eure erste Platte Digital ist besser, das war doch noch was. Später wurde dann K.O.O.K. zu diesem Referenz-Album. Das ist einfach so, weil Platten für die Leute immer mit einer bestimmten Zeit zusammenhängen. Ich glaube, da muss man auch eine gewisse Gelassenheit entwickeln. Wir haben einfach weitergemacht.

Lowtzow: Das liegt in der Natur der Sache. Songs sind ja auch Träger von Erinnerungen und zwar viel stärker als bildende Kunst, Literatur oder Film. Musik ist ja immer auch ein Soundtrack zum Leben.

Einer eurer Songs heißt „Nach der verlorenen Zeit“. Das spielt doch genau auf das Proustsche Erinnerungserlebnis an.

Lowtzow: Ja klar, die Popmusik wirkt auf die meisten Leute so wie die Madeleine auf Proust. Deswegen gibt es ja überhaupt Oldie-Sender. Jeder kennt das vermutlich, wenn man als junger Mensch ein Album hört, und das Album drückt genau aus, wie man sich fühlt. Bei mir waren das Bands wie The Smiths oder The Cure. Das ist nicht zu toppen. Und auch wenn ich in zehn Jahren noch ein bestimmtes Album von The Smiths höre, ist das unschlagbar.

The Cure ist nun wirklich das beste Beispiel dafür, dass früher alles besser war.

Müller: Ist ja immer noch eine gute Band, finde ich.

Ein bisschen Verklärung ist im Pop-Diskurs eben, anders als etwa im politischen Diskurs, erlaubt und vielleicht auch toll. Sie, Herr von Lowtzow, sind in Offenburg im Schwarzwald aufgewachsen. Hatte Musik aus Hamburg für Sie damals eine Bedeutung?

Lowtzow: Witziger Weise kannte ich viele Debütalben der Bands, die bei unserem späteren Label L’age d’or erschienen sind. Ich habe damals in einem autonomen Jugendzentrum aufgelegt, da waren auch Platten von Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs und Kolossale Jugend dabei.

Vielleicht war das dann der beste Moment überhaupt: Kurz vor dem Absprung in die Stadt, von der man aus Provinzsicht eine unheimlich verklärte Vorstellung hatte.

Wie wir leben wollen von Tocotronic erscheint am 23. Januar 2013 bei Vertigo Berlin/ Universal

Tocotronic wurden 1993 von Dirk von Lowtzow (Gesang), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) in Hamburg gegründet. 1995 veröffentlichten sie ihr Debüt Digital ist besser bei L’age D’or und galten fortan neben Blumfeld und den Sternen als prominenteste Vertreter der Hamburger Schule. Mit K.O.O.K. (1999) emanzipierten sie sich davon, das Etikett Diskurspop hingegen klebt bis heute an ihnen. Seit 2004 gehört Gitarrist Rick McPhail zur Band. Wie wir leben wollen ist ihr zehntes Album

Das Gespräch führten Michael Angele und Christine Käppeler

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden