Biennale von Venedig Gegen Moderne und Politik setzt Massimiliano Gionis „Enzyklopädischer Palast“ auf Kontingenz. Die Länderpavillons verblassen vor der starken Aussage dieser Ausstellung
Kontingent heißen Dinge oder Ereignisse, die weder notwendig noch unmöglich sind, die also so sein können, wie sie sind, aber ebensogut auch anders. „Ich weiß, dass es diese Vase nicht geben könnte oder dass sie eine andere Vase sein könnte. Oder dass sie nicht zu Boden gefallen sein könnte“, schreibt Quentin Meillassoux, einer der Vertreter einer neuen philosophischen Strömung namens spekulativer Realismus. Betrachten wir die Welt als kontingent, heißt das: Sie muss nicht so sein, wie sie ist, sie könnte ganz anders sein oder es könnte auch eine ganz andere Welt geben.
„Der enzyklopädische Palast“ hat Massimiliano Gioni, Kurator der diesjährigen Biennale der Kunst in Venedig, seine Hauptausstellung gen
8;hrigen Biennale der Kunst in Venedig, seine Hauptausstellung genannt. In der Renaissance gab es in Venedig einige Versuche, das gesamte Wissen der Welt in Bauten oder theaterartigen Modellen abzubilden, am bekanntesten ist wohl das Teatro della Sapientia von Giulio Camillo aus dem Jahr 1530. Einige der nun in Venedig gezeigten Künstler beziehen sich auf die Wissensmodelle der Renaissance, die eigentliche Quelle des Kurators aber ist eine andere. In den fünfziger Jahren entwarf der italienisch-amerikanische Künstler Marino Auriti ein 136-stöckiges Gebäude, in dem alle Information dieser Welt unterkommen sollte. Gioni zeigt das gut vier Meter hohe Modell in der Eingangshalle zum Arsenale. Von Beruf war Auriti Automechaniker, und damit ist er nicht der einzige Autodidakt, Querkopf und Seiteneinsteiger, den die Ausstellung zeigt.Mit der aufklärerischen Absicht der frühen Enzyklopädisten hat Gionis Idee eines enzyklopädischen Palastes wenig zu tun. Der Blick der von ihm gezeigten Künstler richtet sich vielmehr auf das Obskure, das Obsessive, auf Andersartiges und Abseitiges. In der Metapher des Palastes tauchen mehr imaginäre als tatsächliche Fluchten auf. Spirituelle und magische Praktiken ergänzen die Vorliebe für Randständiges. Systematisch erscheinen diese Ordnungen nur dort, wo ein System hinterfragt werden soll.In 171 Bilderserien hat die Künstlerin Kan Xuan ihre Annäherung an sämtliche bekannte chinesische Kaisergräber dokumentiert. In einem wirren Nebeneinander flirren Hügel zwischen den Feldern, von Skulpturen und Ruinen umgeben. Eine andere Reihe zeigt frühe Kinderfotografien, auf denen die Mutter zwar im Bild, aber nicht zu erkennen ist. Die schwedische Künstlerin Linda Fregni Nagler hat sie zusammengesucht. In Nigeria hat J. D. ’Okhai Ojeikere Bilder verschiedener Frisuren gemacht und damit eine Art von Ikonografie lokaler Haartrachten erstellt. Eine der beeindruckendsten Arbeiten stammt von der Französin Camille Henrot. Ihren Forschungsaufenthalt am Smithsonian in Washington hat sie in einem Video verarbeitet, das eine Internet-Suche zwischen allen möglichen Fenstern und Bewegungen vorführt.Natürlich kennt auch die Welt jenseits der Kunst eine vergleichbare Dichte von Information, vor allem im Internet, wo das Enzyklopädische in kollaborativer Anstrengung zu neuem Leben erweckt wird. Diesen Bezug meidet die Ausstellung jedoch wie alles, was zu aktuell, zu banal oder zu alltäglich erscheint. Die Frage der verschiedenen Medien, die vor Jahren noch künstlerische Debatten hervorgerufen hat, ist mittlerweile erledigt. „Wir sind selbst die Medien“, meint Massimiliano Gioni, „indem wir Bilder weiterleiten, aber manchmal auch feststellen, wie wir von Bildern besessen sind.“Sich unsichtbar machenAuf die Zudringlichkeiten der technisierten Welt antworten viele Künstler mit einem eskapistischen Impuls. Hito Steyerl sinniert in ihrem Video How Not To Be Seen. A Fucking Didactic Educational .Mov File vor einem Testbild-Areal der amerikanischen Luftwaffe darüber, wie sie sich unsichtbar machen könnte. Im Kurztext zu Helen Marten ist von „der Qualität des Unheimlichen, die in allen neuen Medien haust“ die Rede. Mark Leckey stellt in einem Multiscreen-Archiv „die universelle Erreichbarkeit der blöden Dinge“ vor.Die Haltung zu den Medien und zur technischen Welt ist nicht kritisch im herkömmlichen Sinn, sondern eher distanziert, oder anders gesagt: kontingent. Kritik baut immer schon darauf, dass die Welt so ist, wie sie ist, um auf ihre Fehler zu zeigen oder eine Veränderung zu fordern. Die Kontingenz setzt sich über diese Beschränkung hinweg. Denn sie weiß, dass die Welt auch anders sein könnte oder vielleicht gar nicht so ist, wie sie allgemein scheint. Wie auch immer das Spiel der Kontingenz ausgeht, Kritik braucht es dazu nicht.Vom Kontingenten her gesehen lassen sich die Enyzklopädien und Modelle der Künstler nicht als Gegenentwürfe bezeichnen. Denn sie enstehen nicht aus der Negation des Bestehenden, sondern aus dem Wissen, dass unsere Welt weder notwendig noch eine andere Welt unmöglich ist.Darin liegt eine ungeheure Befreiung. Die Kunst wirft damit zwei Lasten ab: die Moderne mit ihrer Geschichtlichkeit und den Hang zum Politischen. Beides, die Moderne wie die Politik, lässt Gionis Ausstellung beiseite. Künstler, die explizit ökonomische oder soziale Verhältnisse anklagen oder auch nur dokumentieren, fehlen. Die Wirklichkeit dieser Welt wird als Problem nicht wahrgenommen.Um den Modernismus macht die Ausstellung keinen großen Bogen, sondern tut schlicht so, als hätte es ihn nicht gegeben. Eine Vielzahl verschiedener Positionen der vergangenen beiden Jahrhunderte werden neu entdeckt, aber Vertreter der klassischen oder konzeptuellen Moderne fehlen fast vollständig. Nur dem Surrealismus hat Gioni Platz eingeräumt – und zwar viel Platz. Aber nicht, weil er ihm in der Kunstgeschichte wieder eine gebührende Stellung sichern will.Befreite UngeheuerUm eine Revision der Kunstgeschichte geht es dem Kurator ganz offensichtlich nicht, vielleicht nicht einmal um die Idee einer Geschichte überhaupt. Vielleicht haben wir es mit einer der ersten großen Ausstellungen zu tun, die die Moderne tatsächlich überwindet. Das tut sie gerade nicht als Nach- oder Postmoderne, also noch immer im historisierenden Modus des Modernismus. Stattdessen greift Gioni an der Wurzel an, indem er die Enzyklopädie nicht als etwas Historisches begreift, sondern das Wissen aus der Herrschaft der Historisierung holt. Dass Kunst damit vielleicht nur etwas nachahmt, das im Netz schon alltäglich geworden ist – wenn auch nicht bewusst – steht auf einem anderen Blatt.Gegen die starke Aussage der Hauptausstellung fallen die Pavillons der einzelnen Länder in diesem Jahr zurück. Dass Deutschland und Frankreich ihre Häuser getauscht haben, interessiert nicht weiter, zumal die Schlangen, in denen die Besucher am Eröffnungswochenende teils Stunden verbrachten, sich halben Wegs kreuzten. Wie immer gab es hier stärkere, dort schwächere Positionen, Ausreißer aber eher nach unten, nicht nach oben. Das kuratorische Konzept Gionis überstrahlte die wie immer zerstreute Vielfalt der Pavillons klar.Allerdings bleibt die Kontingenz nicht ohne Kehrseiten. Die Ausstellung wartet mit zwei Überraschungen auf. Die Eingangshalle zum zentralen Pavillon strahlt eine kultische Atmosphäre aus. Rund um eine Vitrine, in der das aufgeschlagene rote Buch von C. G. Jung liegt, werden einzelne Blätter an Stellwänden gezeigt. Danach folgt eine Halle, an deren Wänden Vorlesungstafeln von Rudolf Steiner hängen. Dieser geistige Rahmen, wenn man es so nennen will, bleibt weit hinter dem Niveau der Ausstellung zurück.Dass Steiner den Rassismus seiner Zeit problemlos in seine Wurzelrassen-Theorie aufnimmt, gerade so, wie er nahezu jeden esoterischen Unfug verwurstet, kommt ebenso wenig zur Sprache wie Jungs jahrelange Begeisterung für die Nazis.Wenn das Bewusstsein des Historischen verschwindet, kehren die Gespenster der Geschichte zurück. Spirituelle oder mystische Eingebungen, obskure und irrationale Denkbilder mögen sich bestens mit der Heroisierung exzentrischer Künstler-Egos vertragen. Auf die Tatsache, dass wir in einer kontingenten Welt leben, gibt der eskapistische Rückzug in Innenwelten und Randgebiete des Wissens nur eine von mehreren möglichen, sozusagen kontingenten, Antworten – und keine besonders befriedigende. Das mag ein praktisches Problem sein, das die Ausstellung zwar berührt, aber ihre künstlerische Position sogar stärkt.
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