Angela Merkel und das große Vergessen

Sommerpause Viele Deutsche sind von den Weiter-So-Künsten der Bundeskanzlerin nicht mehr so recht überzeugt. Daran wird auch das Sommerloch wenig ändern
Ausgabe 28/2016

Ob Angela Merkel urlaubsreif ist, weiß natürlich kein Mensch außer ihr selbst. Aber vermuten kann man es schon, wenn man sich vergegenwärtigt, was sie vor den Sommerferien noch alles auszuhalten hatte. Nur ein Beispiel, exklusiv vom Sommerfest der hessischen Landesvertretung in Berlin, geschildert in den Worten der Frankfurter Neuen Presse: „Der Starkoch Mirko Reeh gab Angela Merkel keinen Handkuss – sondern Handkäs’ in drei Variationen. Allerdings ohne Musik.“ Der „Starkoch“ hat übrigens nach den Recherchen des Lokalblatts bereits zwei Bücher über diesen Käse veröffentlicht. Aber das ist weder medienkritisch noch politisch gemeint. Es geht um echten, für Einheimische genießbaren Käse. Für Außenstehende: Mit „Musik“ ist in die-sem Fall eine Art Dressing gemeint, das über den Käse gegossen wird.

Sollte stimmen, was der Starkoch Reeh berichtet – „Sie hat sich sogar an mich erinnert“ –, dann lässt sich ahnen, wie hart so eine Kanzlerin im Arbeitsalltag gefordert ist. Und nebenbei muss sie auch noch über den ganzen politischen Käse – Zerfall Europas, Abschottung gegen Flüchtlinge, harmonischer Austausch mit der Türkei, unharmonischer Nicht-Austausch mit Russland – ihre selbst entwickelte, einschläfernde Wortmusik gießen. Merkels Kochkünste überzeugen allerdings viele Deutsche nicht mehr so recht, weshalb ihnen nichts Besseres einfällt, als die lästigen Rechtspopulisten zu wählen. Für Merkel wiederum ist das fast so schlimm, als würden sich die Leute vernünftig wehren.

Man kann nur hoffen, dass Merkel sich gut erholt. Vielleicht ist es ihr ja früher genauso gegangen wie anderen Kindern: Man geht in der schönen Welt des Ferienlagers so vollständig auf, dass man danach das eigene Zuhause kaum wiedererkennt. Überrascht steht man vor der heimischen Tapete und staunt, weil man die Farbe schon vergessen hatte. So etwas ist der beste Beleg dafür, dass man im Urlaub so richtig aus dem Alltag ausgestiegen ist.

Aber vielleicht hat sich die Welt ja auch wirklich verändert, wenn die Kanzlerin wieder nach Hause kommt. Vielleicht hat SPD-Chef Sigmar Gabriel bis dahin seine Vorsätze noch nicht vergessen und sendet weiter Signale einer gewissen Unabhängigkeit vom Regierungspartner. Vielleicht haben die Grünen über den Sommer wieder entdeckt, dass sie mal eine Gerechtigkeitspartei waren. Vielleicht haben sich ein paar Linke heimlich in einer brandenburgischen Hütte zusammengerottet und entschieden, ob sie nun mehr oder weniger Europa wollen. Und vielleicht stellt sich heraus, dass die Bewegung gegen CETA und TTIP bei der Hitze immer noch nicht eingeschlafen ist.

Und dann? Dann wird die Kanzlerin so tun, als wäre alles wie immer. Sie wird uns sagen, dass Deutschland und Europa sehr schöne Orte sind, an denen man alle Probleme durch aktives, marktkonformes Nichtbefassen lösen kann. Vielleicht wird sie noch sagen: Wenn demnächst die Österreicher den Hofer wählen, die Berliner die AfD und die US-Amerikaner den Trump, dann hat das mit der herrschenden Politik nichts zu tun. Und sie wird sich vielleicht erst dann wundern, wenn diese Leute noch hässlichere Tapeten aufziehen.

Kurz vor den Ferien hat sich Jürgen Habermas in der Zeit zur Weiter-so-Politik der Angela Merkel geäußert: „Ich befürchte, dass sich diese vertraute Politik der Abwiegelung durchsetzen wird oder schon durchgesetzt hat – keine Perspektive, bitte!“ Kleiner Urlaubstipp für die Kanzlerin: Das war nicht als Aufforderung gemeint, sondern als Kritik.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden