A–Z Bücher sind etwas Schönes. Sie machen sich auch gut im Regal. Nur: Wer soll all die Klassiker und Neuerscheinungen schon lesen? Von der Kunst des stolzen Aufgebens
Abbruch Ohne jetzt zu sehr ins Detail zu gehen: Als ich noch mit einem Literaturkritiker zusammenlebte, sah unsere Wohnung aus wie eine Stadtbibliothek. Nicht nur, dass er alle Bücher, die erscheinen oder erschienen waren, besitzen wollte, er las auch jedes einmal begonnene Buch tatsächlich durch. Bis zum bitteren Ende. Ich habe ihn dafür bewundert. Bücher-zu-Ende-lesen ist ja eine Philosophie für sich. Das Bücher-nur-bis-dahin-lesen-wo-es-Spaß-macht dagegen ist eine Disziplin, die ohne großen Handapparat auskommt, das gebe ich gern zu. Ich bin ihr dennoch verfallen. In Wahrheit lese ich kaum ein Buch zu Ende. Ich empfinde ungenügsame Lektüre als brutal geklaute Lebenszeit. Andererseits kann ich Autoren, denen ich bis zur letzten Zeile gef
ich bis zur letzten Zeile gefolgt bin, wie Götter verehren. Jana HenselBBienen Irgendwann in den 80er Jahren hörte ich in einer Vorlesung über „Optimismus – Pessimismus – Nihilismus“ von Bernard Mandevilles Bienenfabel aus dem Jahr 1724. Seither geht mir immer mal wieder „Mandevilles Bienenfabel lesen!“ durch den Kopf. Ich habe sie aber nie gelesen. Ich weiß nicht einmal mehr, für was sie steht: für eine optimistische, eine pessimistische oder eine nihilistische Weltsicht.Optimistisch: Bienen sind fleißig, ihr Staat funktioniert zum Wohle aller. Pessimistisch: Bienen stechen, man kann an ihren Stichen sogar sterben. Nihilistisch: Sollen sie ruhig stechen, die wenigsten sterben, und den Honig klauen wir ihnen. Vielleicht ist aber alles auch ganz anders. Ich könnte es leicht nachgoogeln. Tue ich aber nicht. Das Internet macht in dieser Hinsicht alles kaputt. Bernard Mandevilles Bienenfabel soll mir ein Stachel im Fleisch bleiben. Michael AngeleBuddenbrooks „Je,den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!“, sagt Johann Buddenbrook zu Beginn und setzt damit gleich den ersten Punkt, an dem der Deutsch-LK-Abiturient das Buch schnell weglegt und sich fragt, warum er nicht auf seine Eltern gehört und Mathe gewählt hat. Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901): Das sind 758 Taschenbuchseiten Nobelpreisliteratur, mit denen man laut Lehrern am besten schon „in den Herbstferien“ anfängt – um dann aber doch erst zwei Wochen vor der Klausur einen kläglichen Versuch zu unternehmen, wenigstens ein paar Kapitel schnell noch zu lesen. Wahrscheinlich ist es großartige Literatur. Aber sie liest sich nicht gut mit dem Klausurschweiß im Nacken. Eine kurze Umfrage im Freundeskreis ergab: Kein Schüler hat die Buddenbrooks je komplett durchgeackert. Wenn doch – dann lügt er oder sie. Ich selbst gebe mich ebenfalls der Illusion hin, das Ding durchgelesen zu haben. Sonst müsste ich ja noch mal von vorn anfangen. Simon SchaffhöferDDistinktion Das Thema des Seminars klang vielversprechend: „Eine Theorie des literarischen Geschmacks – warum wir lesen, was wir lesen.“ Mich interessierte, wieso das, was ich bisher für meine superindividuellen Vorlieben gehalten hatte, nichts anderes als das Produkt meiner Sozialisation und meines Umfelds sein sollte. Voller Elan ging ich zur ersten Sitzung, trug mich in die Teilnehmerliste ein und kaufte Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede (1982). Aber wie das in einem Magisterstudium damals so war: Die Zahl der Seminare, die man besuchte, dünnte sich mit dem Fortgang des Semesters stark aus. Das Lesezeichen in Bourdieus 900-Seiten-Wälzer steckt bei mir heute noch auf Seite 60. Ich merkte aber auch: Bourdieu-Kompetenz lässt sich leicht simulieren, ohne ihn gelesen zu haben. Man muss nur Begriffe wie „symbolisches Kapital“ einwerfen, schon nicken alle. Funktioniert in fast jeder Feuilleton-Konferenz. Bisher zumindest. Jan PfaffFFamiliensaga Gebannt las ich die ersten Seiten von Nino Haratischwilis neuem Roman Das achte Leben (Für Brilka)(2014): Eine toughe, nüchterne und dabei reizvoll wankelmütige Wahl-Berlinerin – gebürtig, wie die Autorin, in Tiflis – referiert der kleinen Nichte ihre Familiengeschichte. Angefangen bei Ururgroßmutter Stasia, 1900 in Georgien als Tochter eines Schokoladenfabrikanten geboren, ist alles eng mit den großen historischen Ereignissen verwoben. Stasias Schwester muss die Geliebte des „Kleinen Großen Mannes“ werden, wie Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Beria im Roman nur genannt wird. Ihr Ehemann verätzt ihr schließlich das Gesicht und bringt sich um, weil er keine andere Rettung für sie sieht. Ähnlich umwerfend geht es weiter, sodass es mir noch auf Seite 600 wie ein Versprechen erschien, dass weitere 680 bevorstanden. Aber es wird zunehmend schwülstig, was auch an der verdammten Schokolade liegt, die jedes von ihr kostende Familienmitglied ins Verderben schickt. Ein saublödes Gefühl, ein Buch nach 800 Seiten wegzulegen. Christine KäppelerFehler Während einer Moskaureise führte mich eine dort heimische Freundin mit kultureller Ambition durch die Altstadt. Um die sogenannten Patriarchenteiche schlendernd, erklärte sie, diese seien ein wichtiger Schauplatz des Romans Der Meister und Margarita (1940/1966) von Michail Bulgakow. Das Buch ist ein russischer Klassiker, obwohl die Zensur ihn einst um ein Achtel kürzte, umfasst er stattliche 525 Seiten. Verliebt in die russische Seele begann ich mit der Lektüre. Mit Anleihen bei Faust, mit Dämonen, Hexen und einem sprechenden Kater ist sie recht kurzweilig. Dennoch kostete sie mich Monate. Dann, kurz vor Schluss: ein Bindungsfehler! Die letzten Seiten fehlten! Ich musste weinen, dann lachen. Und verwandelte mich vor Wut in eine sprechende Katze. Bis heute kenne ich das Ende nicht. Sophia HoffmannJJoyce, James Man wächst mit seinen Aufgaben, heißt es so schön. Leider funktioniert das aber nur selten. Vor zwei, drei Jahren entdeckte ich auf einem Büchermarkt in einem Fundus, der wohl aus der Haushaltsauflösung eines Literaturprofessors stammen musste, eine englische Ausgabe des Ulysses (1922). Ich wusste, dass Joyce keine Pixibücher schreibt. Im Nachhinein betrachtet, hätte sich zwischen den dunkelgrünen „Ulysses“-Buchdeckeln aber auch eine Sammlung der schönsten Inhaltsangaben auf Kosmetikprodukten („Ingedients: Aqua, Paraffinum Liquidum ...“) verbergen können – ich hätte keinen Unterschied bemerkt. Seitdem habe ich mehrmals erfolglos versucht, auch nur ein paar Seiten dieses „Jahrhundertbuches“ (Le Monde) ganz zu lesen. Falls ich es irgendwann doch schaffen sollte: Meine Großmutter hat mir schon Joyce’ Spätwerk Finnegans Wake (1923 – 1939) vorbeigebracht. Sophia HoffmannKKampf Es gibt viele Bücher, die so lange auf meinem Nachtschränkchen lagen, dass ich sie irgendwann unauffällig wieder ins Regal gestellt habe. Aber nur wenige, bei denen ich das Lesen ganz bewusst vorzeitig beendet habe. Und nur eines, über dessen Lektüre-Abbruch ich in aller Öffentlichkeit erzählen kann, ohne von irgendwem kritisiert zu werden: Mein Kampf! Während meiner Schulzeit habe ich einige Seiten gelesen, gar nicht so wenige. Die altdeutschen Buchstaben haben mich zwar etwas ermüdet, aber nicht abgehalten. Vielmehr war es am Ende die Erkenntnis, dass mir das Buch keine Erkenntnis bringt. Die Ideologie des „Führers“ ist einfach zu durchgeknallt und in keinster Weise nachzuvollziehen. Schade. Oder doch nicht? Felix WerdermannMMarx, Karl Mit etwa 15 Jahren beschloss ich, mir Marx vorzuknöpfen. Einstieg sollte dabei nicht irgendein kleines Artikelchen, irgendein Progrämmchen sein, sondern direkt Das Kapital (ab 1867). Aber: Für mich blieb es bei ein paar Seiten. Ich verstand einfach nicht, was Marx etwa mit der „entfalteten relativen Wertform“ meinte. Aus Angst, die rettende Erklärung zu verpassen, traute ich mich jedoch auch nicht, einige Kapitel auszulassen, die Qual abzukürzen. Es war deprimierend. Ich gab auf und versuchte mich stattdessen an Sekundärliteratur. Rückblickend war das vielleicht keine so schlechte Sache. Denn Marx hat die angestrebten vier Bücher nicht selbst vollenden können. Die reine Marx-Lektüre hätte ohnehin ein abruptes Ende genommen. Benjamin KnödlerRRezensenten Es mag wie Jammern auf hohem Niveau klingen, aber: Ein Buch auf Gedeih und Verderb zu Ende lesen zu müssen, ist das Leid des Rezensenten. Vielleicht erklärt genau das die bitterböse Bissigkeit so manchen Verrisses. Es gibt Bücher, die schmerzen einfach bei der Lektüre, da will man eigentlich gar nicht durch – muss aber. Sonst läuft man Gefahr, sich als Kritiker zu blamieren. Rezensionen sollen ja nicht zuletzt eine Hilfe sein, ein Kompass für (potenzielle) Leser, und da muss derjenige, von dem Orientierung erwartet wird, das Gelände eben ausreichend durchmessen haben. Immerhin gibt es ein vergnügliches Buch, das sich mit dem Problem der Nicht- oder Halblektüre beschäftigt: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (2007) von Pierre Bayard. Auch das Verhältnis von Kritiker und Leser wird hier durchbuchstabiert. Tobias PrüwerUUrlaub Vor meiner Islandreise in diesem Sommer streifte ich auf der Suche nach einer Reiselektüre durch ein befreundetes Bücherregal und griff mir Hundert Jahre Einsamkeit (1967) des gerade erst im April verstorbenen Gabriel García Márquez. In der festen Überzeugung, es vor zehn Jahren schon mal auf einer Mittelamerikareise verschlungen zu haben, dachte ich: „So einen echten Klassiker kann man auch noch mal lesen.“ Während des ersten Drittels versuchte ich, mich an die Handlung zu erinnern; irgendwann, zwischen isländischen Geysiren und Bergen, zweifelte ich massiv an meinem Gedächtnis; nach der Hälfte merkte ich, dass ich vorher aber Leben, um davon zu erzählen (2002) gelesen hatte, Márquez’ Autobiografie. Tja. Und ich muss sagen, dass mir Letzteres doch besser gefiel. Die Hundert Jahre sind vorerst vertagt, vielleicht lese ich das Leben aber noch einmal. Sophia HoffmannZZeeb, Gerhard Wie Millionen anderer Kinder träumte ich als Junge davon, Profifußballer zu werden. Dumm nur, dass die Begabung da mal so gar nicht mitmachte. Eine erschütternde Erkenntnis. Ins Fußballgeschäft wollte ich trotzdem – dann eben als Coach. Für die Trainingseinheiten mit meinem ersten Jugendteam wollte ich natürlich entsprechend vorbereitet sein. Gerhard Zeebs Grundlagenfibel Fußballtraining (2000/2012) sollte mir dabei helfen. Allein, auf eine so ernsthafte Professionalität war ich nicht eingestellt. Von medizinischen Hinweisen zum richtigen Aufwärmen bis zur „Periodisierung des Fußballtrainings“ und einem Dreimonatsplan zur Organisation eines Trainingslagers lernte man dort alles Mögliche. Seitenweise musste man sich durch Taktikzeichnungen kämpfen. So trocken hatte ich mir das nicht vorgestellt. Den jugendlichen Spielern ging es ähnlich, denn die wollten einfach kicken. Der Trainingsratgeber wanderte also halb gelesen ins Regal. Da ist er noch immer. Nur für den Fall, dass ein Profiklub meine Hilfe im Abstiegskampf benötigt. Benjamin Knödler
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