Kühn steckt tief in der Krise. Um die Hüften des Münchner Kripo-Kommissars wölbt sich langsam der Mittvierziger-Speckring, auch Ehefrau Susanne springt ihn nicht mehr so lustvoll an. Das überteuerte Haus muss abbezahlt werden und beruflich läuft’s nicht besser. Keine Beförderung in Sicht. Kühns Gehalt ist zwar rechtschaffen verdient, aber man kommt damit mehr schlecht über die Runden und im Angesicht der Erfolge seines vermeintlich besten Freundes Steirer fühlt sich Kühn komplett abgehängt. Selbst die flüchtige Affäre mit der beunruhigend unabhängig auftretenden Kollegin kann sein männliches Selbstbild kaum aufpolieren. In der Not greift der Kommissar zu einem Diät- und Männerratgeber, dem Bestseller namens „Weck die Bestie, du Sau!“. Die „Ferdie-Caparacq-Methode“ verspricht purzelnde Pfunde sowie das Ende der „Enteierung der Männer“ und der „Verschwanzung der Frauen“. Mit Sprüchen wie „Erfolg ist männlich, sonst würde es Sie-Folg heißen“, treibt das Buch nicht nur Kühns Frau auf die Barrikaden.
Mitten in die Krise und in die Diät platzt Kühn auch noch ein Fall. Hungrig und mies gelaunt macht er sich auf zu einer Baugrube, um den Mord an der estnischen Stripperin Nicky aufzuklären. Schnell gerät er dabei an den jungen, nicht weniger in seiner männlichen Identität beschädigten Polizisten Sebastian sowie auf den Misogynisten Hartmut. Abgründe tun sich auf.
Jan Weilers Kühn hat Hunger ist der dritte Band in der Reihe um den Münchner Ermittler. Ähnlich wie in den beiden Vorgängerromanen ist auch diesmal der Kriminalfall zweitrangig, wenn auch bedeutend düsterer und ernster. Zwischen den wechselnden Perspektiven und unterschiedlichen Zeitsträngen sowie den amüsant-provokativen Diätbuch-Einträgen ist schnell klar, wer der Mörder und was sein Motiv ist. Für den Erfolgsautor, der mit seiner Pubertier-Reihe über die Sorgen und Nöte von Eltern pubertierender Kinder bekannt wurde, ist die Kriminalgeschichte ein guter Ort, um mit satirischem Wortwitz über den verunsicherten Mann im #MeToo-Zeitalter zu erzählen. Nicht von ungefähr erlebt sein Protagonist, der wie auch Weiler zur Generation der Anfang der 70er Jahre Geborenen gehört, das Dilemma der Männer, die einerseits von den alten Rollenbildern der Kriegs- und Nachkriegsgeneration geprägt sind und andererseits sehr wohl begriffen haben, dass der Gender Pay Gap inakzeptabel ist.
Polizist, pornosüchtig
Jan Weiler erzählt von der Innenwelt der Incels — von Männern, die unfreiwillig enthaltsam leben und entweder noch nie oder über lange Zeit keine sexuellen Kontakte hatten. So wie etwa der junge pornosüchtige Polizist Sebastian. Weiler greift damit ein äußerst aktuelles Thema auf, das schmerzhaft an Toronto 2018 und die Amokfahrt eines 25-Jährigen bekennenden Incels erinnert. Während für viele erst Toronto die Misogynie und Gewaltbereitschaft dieser antifeministisch-rassistischen Gruppierung deutlich gemacht hat, tummeln sich seit Jahren auch im deutschsprachigen Raum auf diversen Online-Plattformen radikale Frauenfeinde, die Hass und Gewaltfantasien verbreiten. Auch der Weg zu den schrecklichen Ereignissen in Halle ist da nur einen Klick entfernt.
Diente der nach rechts abgedriftete Akif Pirinçci als Vorbild? Die maskulinistische Rhetorik der fiktiven Männer-Ikone Ferdie Caparacq klingt jedenfalls unangenehm vertraut, erinnert an den amerikanischen Aufreißer-Trainer Julian Blanc, dem Großbritannien 2014 ein Einreiseverbot erteilte. Filmisch hat zuletzt der Hamburger Filmemacher Linus de Paoli im Frühjahr mit A Young Man With High Potential die Incel-Welt künstlerisch aufgegriffen. Wo allerdings de Paolis Computernerdwelt klischeehaft bleibt und auf Gemetzel setzt, ein eher missglücktes Gesellschaftsporträt vereinsamter Nerd-Männlichkeit liefert, bieten Weilers Figuren mehr: Fern aller Stereotype kommt manch ein Mann sehr menschlich in seiner Mittelmäßigkeit daher. Männlicher Selbsthass, seine Projektion auf Frauen und quälende Ohnmachtsgefühle rechtfertigen freilich niemals nur eine Form der Gewalt. Die Angst vor Zurückweisung kennt jedoch kein Geschlecht.
Info
Kühn hat Hunger Jan Weiler Piper 2019, 416 S., 22 €
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