Ignacio Ramonet ist seit 1991 Chefredakteur der Monatszeitschrift Le Monde diplomatique. 1997 gab er mit dem Artikel Entmachtet die Märkte den Anstoß zur Gründung der internationalen Attac-Bewegung. 2001 gehörte er zu den Initiatoren des ersten Weltsozialforums in Porto Alegre. Dort unterzeichnete er 2005 zusammen mit anderen das Manifest von Porto Alegre. Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin am 12. Januar 2008 hielt Ramonet einen Vortrag über das Versagen der "Vierten Gewalt" und forderte größere Anstrengungen zum Aufbau widerständiger Medien für die antikapitalistische Bewegung.
FREITAG: Beim Weltsozialforum 2006 meinten Sie, derzeit müsse das Militärprojekt der USA zum Scheitern gebracht werden. Das sei notwendig, um einen hinreichenden Spielraum zu schaffen, ohne den jeglicher sozialer und demokratischer Fortschritt verletzlich sei. Bleiben Sie zwei Jahre später bei dieser Analyse?
IGNACIO RAMONET: Prinzipiell ja. Andererseits treten Prozesse, die 2006 schon wichtig waren, jetzt noch stärker in den Vordergrund. Wir sehen heute mehr denn je dem Ende des Ölzeitalters entgegen. Wir haben vielleicht noch für 40 bis 60 Jahre Öl. Dieser Rohstoff wird in Zukunft einen solchen Preis erreichen, dass es sich nur noch wenige Länder werden leisten können, eine auf Öl basierende Energieversorgung aufrechtzuerhalten. Das wird zu einer strategischen Frage, wie man in den vergangenen Jahren sehen konnte.
Schließlich ist die militärische Beherrschung der Welt durch die USA wesentlich von der Kontrolle über das Öl bestimmt. Deswegen sind die USA im Nahen Osten und in Afrika, deshalb sind sie im Streit mit Venezuela und Russland. Die Gefahr besteht, dass es künftig neue Kriege wegen des Öls geben wird.
Ein zweites Thema, das uns schon bewusst war, das wir aber nicht benannt hatten, ist die ökologische Krise. Die Folgen der Klimaerwärmung sind drastischer als vorhergesehen. Das zwingt zu radikalem Umdenken über die Energieversorgung, selbstverständlich in Richtung auf erneuerbare Energien, aber in einigen Ländern auch in Richtung Kernenergie, mit allen daraus resultierenden Gefahren für die Menschheit.
Wie bewerten Sie den rasanten Aufstieg einiger Länder des Südens?
Indien und China repräsentieren nicht nur gut ein Drittel der Weltbevölkerung. Nimmt man noch Brasilien, Südafrika und Russland hinzu, dann ist das ökonomische Gewicht dieser Staatengruppe als Motor der Weltwirtschaft inzwischen größer als das Gewicht der USA. Diese Länder sind dabei, sich Staatsfonds aufzubauen, die sie in die Lage versetzen werden, im Kern der Globalisierung zu agieren. Daher wird sich meiner Meinung nach bald die Frage einer Rückkehr des Protektionismus stellen. Wenn Länder wie China und Indien, aber auch Südkorea, Malaysia oder Indonesien zur Fabrik der Welt werden, lässt sich dorthin kaum noch etwas exportieren, obgleich diese Staaten die neuen ökonomischen Mächte darstellen, die etwas kaufen könnten. Was wird dann aus den Industrien in den entwickelten Ländern des Westens?
Schließlich geht es um eine Gefahr, die wir schon lange kannten, aber nicht als so drängend eingeschätzt haben, wie sie sich jetzt darstellt: der Krach an der Börse in den USA. Die Hypothekenkrise hat Folgen für die größten US-Banken, die jetzt durch Staatsfonds besonders arabischer Länder gerettet werden. Da auch Banken in Deutschland und der Schweiz davon erfasst sind, stellt sich die Frage, ob es zu einer weltwirtschaftlichen Rezession kommt. Können dann China, Indien und andere zum Motor der Weltökonomie werden, wenn der US-Motor ausfällt? Sollte das nicht gelingen, bedeutet das eine Weltwirtschaftskrise.
Sehen Sie auch Einbrüche beim militärischen Potenzial der USA?
In dieser Hinsicht sind die USA immer noch bei weitem die Nr. 1 - nur zeigt der Nahe Osten, ihre militärische Macht erlaubt es ihnen nicht, asymmetrische Kriege zu gewinnen: Die USA haben den Irak-Krieg nicht gewonnen. Vielleicht wird es ihnen gelingen, den Irak in Schach zu halten, aber man weiß nicht, wie es endet. Die Amerikaner können auch den Krieg in Afghanistan nicht gewinnen. Israel kann den Krieg gegen die Palästinenser nicht gewinnen, jedenfalls nicht militärisch, eventuell politisch. Man sieht also in dieser Region: Militärische Überlegenheit muss nicht zwingend zu militärischen Siegen führen.
Das heißt?
Das heißt, dass die USA nicht in den Iran einmarschieren. Vielleicht werden sie das Land bombardieren, aber sie werden nicht, wie im Irak, mit Bodentruppen einmarschieren. Das heißt weiter, die Amerikaner werden von diesen Konflikten so erschöpft, dass sie sich für eine gewisse Zeit keine bedeutenden militärischen Abenteuer mehr leisten können. Zumal Russland dabei ist, wieder eine bedeutende Militärmacht von Weltrang zu werden. Wir sehen also - von der militärischen Balance her - nach einer unipolaren Ordnung wieder einem eher multipolaren Kräfteverhältnis entgegen.
Wie können sich unter diesen Umständen die sozialen Bewegungen, wie kann sich vor allem das Weltsozialforum weiter entwickeln?
Leider sind die internationalen sozialen Bewegungen derzeit unfähig, eine Form der Vernetzung zu finden, die sie einheitlicher handeln lässt. Man ist nicht bereit, sich Ziele zu setzen, die in die gleiche Richtung gehen.
Und das hindert die sozialen Bewegungen daran, der eingetretenen Situation gerecht zu werden?
Ja, denn man hat mehrere Phasen durchlaufen. Die erste bestand darin, die Globalisierung zu definieren. Mitte der neunziger Jahre existierte die Bewegung noch nicht, weil sie nicht wusste, wogegen sie kämpfen sollte. Es war nötig, dass viele intellektuelle und politische Kräfte den Gegner gemeinsam definierten - der Gegner war die Globalisierung.
In der zweiten Phase wurden alle diejenigen zusammen gebracht, die - ohne es zu wissen - gegen die Globalisierung kämpften, im Süden wie im Norden. Das wurde geschafft. Man hat freilich den Eindruck, dass diese Erfolge - vorrangig die Gründung des Weltsozialforums - inzwischen die Bewegung lähmen. Die Bewegung ist heute - potenziell - stark, wie nie zuvor. Sie ist weltweit die einzige einigermaßen organisierte Kraft, die sich der Globalisierung widersetzt, aber sie weiß nicht, was sie mit ihrer Kraft anfangen soll. Es werden Möglichkeiten verspielt, zumindest sehe ich das so. Dabei wären wir heute in der Lage, Kämpfe auf Weltebene zu führen. Erinnern Sie sich nur an die großen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg.
Es gibt eine Zeit, in der Bewegungen wie das Weltsozialforum aufhören müssen, nur erfolgreiche Widerstandsbewegungen zu sein und ein neues Stadium brauchen, eine andere Form der Kämpfe.
Warum sagen Sie das mit solchem Nachdruck?
Die ideologische Offensive der Globalisierung schreitet voran. Wir können feststellen, dass die Bewegung den Herrschenden keine Angst mehr macht. Sie sprechen darüber kaum noch. Seit in Frankreich Attac in eine Krise geraten ist, spricht die französische Presse nicht mehr von Attac. Man spricht auch nicht mehr vom Weltsozialforum. Uns macht dieses Schweigen Sorgen, weil es beweist, dass die anderen die Schlacht gewonnen haben - und zwar wegen der Zersplitterung. Darum meine ich, dass die Hauptorganisationen, die das Weltsozialforum bilden, sich die Frage stellen müssen: Was wird aus uns? Was sollen wir tun?
Dabei scheint mit die Frage der Machtübernahme wesentlich zu sein. Diese ganze Bewegung hat sich mit der grundsätzlichen Vorstellung gebildet, es könne nicht darum gehen, die Macht zu übernehmen. Ich frage mich, ob das heute noch gültig bleibt. Die Erfahrung in Lateinamerika zeigt, dass man an der Macht einiges erreichen kann. In Europa ist das sicher schwieriger wegen der Zwangsjacke der EU.
Mit dem Stichwort Lateinamerika verbindet sich heute unwillkürlich der Begriff "Sozialismus des 21.Jahrhunderts". Ist das eine Alternative?
Das ist zuerst einmal eine Baustelle. Hugo Chávez, der dieses Konzept mit lanciert hat, könnte selber keine Definition des Sozialismus des 21. Jahrhunderts geben, würde man ihn fragen. Fidel Castro selbst sagt, dass sich heute der Sozialismus in einer Krise befinde und es mehrere Vorstellungen darüber gäbe. Er ist sich dessen sehr bewusst, wie ich Gesprächen mit ihm entnehmen konnte.
Chávez ist sich klar darüber, dass in einem politischen Veränderungsprozess eine Zeit kommt, da man von der Praxis zur Theorie übergehen muss. Das hat Marx genauso getan - den Kapitalismus gab es schon, als Marx definiert hat, was Kapitalismus ist. Die revolutionären Bewegungen gab es schon, als Lenin die Beobachtungen ihrer Kämpfe theoretisch aufgearbeitet hat, so wie das Marx mit der Pariser Kommune getan hat.
Chávez geht ebenso vor: In Lateinamerika gibt es zur Zeit vor allem die Vitalität der Basisbewegungen, nicht der politischen Parteien. Chávez wurde nicht von einer politischen Partei gewählt - die Sozialdemokratie war und ist gegen ihn. Es sind die Basisorganisationen mit ihrer Vielfalt im Wohnviertel oder in den Regionen, es sind Frauen, Männer, die Indigenen, mit ihren jeweiligen Forderungen. Sie haben Persönlichkeiten wie Chávez oder dem neuen ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa zum Sieg verholfen. Politiker wie diese verbünden sich mit den sozialen Bewegungen und geben ihnen so die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen und Reformen einzuleiten - im Erziehungs- und Gesundheitswesen zum Beispiel Aber es kommt eine Zeit, in der dies kein ständiges Handwerkeln mehr sein kann. Man muss zu einer Theorie übergehen und sich fragen: Was bewahren wir von all diesen Erfahrungen? Das Ergebnis ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
Über den man aber noch nicht viel weiß ...
... nicht unbedingt. Wir sollten uns die inzwischen zehn Jahre alte Bolivarische Revolution genau ansehen und die eingangs geschilderte Weltlage, ihre ökologischen und energetischen Aspekte beachten. Wie können wir alle diese Elemente in ein Vorhaben einarbeiten, das nicht nur für Venezuela, sondern für die gesamte Menschheit gültig sein könnte. Das Ergebnis ist wieder der Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
Dieser Prozess, in dem wir uns jetzt befinden, geht über eine Situation hinaus, wie wir sie mit Subkommandante Marcos und den Zapatisten in Mexiko hatten. Marcos hat eine höchst wichtige Rolle gespielt, als es galt Menschen von der Notwendigkeit des Zusammenschlusses zu überzeugen, die auf der ganzen Welt Widerstand leisteten. Er hat sehr wichtige Impulse gegeben, wie sie auch von Pierre Bourdieu in Frankreich oder von Noam Chomsky, von der gewerkschaftlichen Bewegung, von Le Monde diplomatique oder Attac kamen. Aber es kommt eine Zeit, da man zu einer neuen Phase übergehen muss. Wenn man aus der Vorstellung, soziale Bewegungen seien das Einzige, was man bewirken könne, einen Fetisch macht, dann lähmt man die Bewegung.
Sie haben viel mit Fidel Castro gesprochen und darüber ein Buch geschrieben. Welche Erfahrungen Kubas sollten bei dem, was Ihnen vorschwebt, einfließen? Welche vermieden werden?
Man sollte vermeiden, sich in eine offene Konfrontation mit der ersten Weltmacht zu begeben. Das ist sicher sehr schwierig, aber wenn man einer Blockade durch die USA ausgesetzt wird, führt das zu manchen Zwängen, die das Leben sehr erschweren. Ebenfalls zu vermeiden wäre die Zulassung von nur einer Partei. Nachahmenswert ist - bezogen auf Kuba - die gesamte Sozialpolitik, aber nicht nur das: Es gibt eine Politik der ständigen Beratung mit den Arbeitern. In diesem Land gibt es Vollbeschäftigung. Kooperativen sind immer freiwillig entstanden, besonders auf dem Lande.
Kuba ist ein sehr kleines Land, nicht in der Lage, autark zu sein, und hat in seiner Geschichte drei Abhängigkeiten erlebt: von Spanien, dann von den USA und - selbst wenn sie ganz anders war - von der Sowjetunion. Die Kubaner wollen, glaube ich, nicht mehr abhängig sein. Diejenigen, die jetzt von einer Abhängigkeit gegenüber Venezuela reden, beachten nicht, dass die entstandene Beziehung ganz anderer Natur ist. Denn was Kuba im Austausch geben kann, ist sehr bedeutend. Auch wenn es sich nicht wie Erdöl quantifizieren lässt, ist es vielleicht von noch größerer Bedeutung. In Venezuela gibt es dank kubanischer Lehrer keine Analphabeten mehr. Schauen Sie umgekehrt nach Nicaragua, wo es unter den Sandinisten eine bedeutende Alphabetisierungskampagne gab: Jetzt sind wieder 35 Prozent der Menschen Analphabeten. Das ist dramatisch!
Eine ganze Reihe von Erfahrungen in Kuba sollten also bewahrt werden, und ich denke, dass die Kubaner selbst viel von dem, was ihre Eigenart ausmacht, bewahren wollen. Doch lebt in diesem Land eine komplexe Gesellschaft, überhaupt keine monolithische. Eine einzige Partei ist also nicht in der Lage, die Vielfalt der Bestrebungen der Kubaner zu repräsentieren.
Castro sagt, diese Vielfalt könne in der Einheitspartei Platz finden.
Ja, aber er sagt vor allem, dass in einem Land, das von der ersten Weltmacht bedroht werde, die Einheit das Wichtigste ist, das es zu bewahren gilt. Darum ist es so elementar, dass diese Bedrohung aufhört. Ist sie eines Tages nicht mehr vorhanden, wird ein Fortschritt bei gleichzeitiger Anerkennung der Vielfalt in der kubanischen Gesellschaft stattfinden. Man spricht oft vom chinesischen Modell, aber die Kubaner schauen sich auch genau an, was in Vietnam geschieht.
Das Gespräch führten Marie Dominique Vernhes und Peter Strotmann
Die ausführliche Version des Interviews finden Sie unter www.attac.de/rundbrief
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