Nach dem 11. September hieß es, die Welt sei nicht mehr die gleiche wie vorher. Besser hätte es heißen sollen, wir müssten ein falsches Bild korrigieren, das wir uns von der Welt gemacht haben. Bisher stand für viele fest, dass ein Weg zu immer mehr Freiheit und Unabhängigkeit führe, nämlich die Erlangung überlegener Stärke. Nun aber wurde ausgerechnet das Volk, das eine unvergleichliche wirtschaftliche, wissenschaftliche, technische und vor allem militärische Übermacht errungen hat, von einigen wenigen fast unbewaffneten Angreifern ins Herz getroffen.
Vor aller Augen wurde demonstriert, was in kleinerem Maßstab seit Jahren in Nahost zu besichtigen ist: nämlich die Hilflosigkeit noch so gewaltiger militärischer Ü
cher Übermacht gegenüber einer scheinbar wehrlosen Schwäche, aus der aber eine unzerstörbare Gegengewalt durch selbstmörderische Täter wachsen kann. Eine verkannte gegenseitige Abhängigkeit macht es dem bis an die Zähne bewaffneten Israel unmöglich, sich trotz intensivsten Militäreinsatzes der palästinensischen Attentäter zu erwehren, die sich als lebende Bomben opfern.Die einen können zwar die anderen unterdrücken, aber sie bleiben wegen der gegenseitigen unlösbaren Vernetzung von ihnen abhängigWas sollte die Lehre aus dieser Erfahrung sein? Das hat der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber knapp und treffend nach dem 11. September in einem Brief an Präsident Bush formuliert: "Der Terrorismus ist nur die verzerrte negative Form der wechselseitigen Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind."Anders ausgedrückt: Wir alle sind, ob Individuen, Glaubensgemeinschaften, Ethnien oder Nationen, aneinander gebunden. Wir müssen diese Gegenseitigkeit, diese Vernetzung untereinander erkennen, um uns in gemeinsamer Verantwortung kulturell entwickeln zu können. Das ist die eigentliche Ordnung unseres Lebens, die uns vorgegeben ist. Das war vor dem 11. September so und ist danach nicht anders. Aber dieses Verständnis von unserer Befindlichkeit in der Welt ist einem Großteil der Menschen im Westen und speziell auch in den Vereinigten Staaten fremd geworden.Die Besessenheit von einem Machtwillen, der immer nur über andere und über die Naturgewalten siegen will, hat etwas von der psychiatrischen Krankheit der Manie an sich. Es ist eine Form von Irrsinn, wenn der zerbrechliche, sterbliche Mensch - genauer gesagt der Mann - in seinem Streben nach Selbstvergöttlichung das Leiden aus seinem Leben verbannen will. Die einen können zwar die anderen unterdrücken, aber sie bleiben wegen der gegenseitigen unlösbaren Vernetzung von ihnen abhängig. Würden sich die Israelis im Leiden der Palästinenser und diese sich in dem den Israelis bereiteten Leiden wiedererkennen, könnten sie unschwer eine Verständigung und ein friedliches Zusammenleben auf ihrem kleinen Fleck Erde möglich machen. Das wäre zugleich das Modell, nach dem auch der Westen mit seiner Führungsmacht den Nährboden in den islamischen Regionen austrocknen könnte, aus denen der terroristische Hass immer neu nachwächst. Aber die Voraussetzung wäre erst einmal: die Erniedrigung, die Entwürdigung und die Kränkung religiöser Gefühle auf der anderen Seite ernst zu nehmen.In Wahrheit wächst uns gerade aus dem Mitfühlen eine Kraft zu, unsere Verantwortung für die anderen zu erkennen und zu beherzigen. Man denke an die Überschwemmungskatastrophen, die gerade Hunderttausende in Mittel- und Osteuropa um ihre Wohnungen und um ihr Hab und Gut gebracht haben. Da plötzlich standen die Menschen in großen Scharen füreinander ein. Wer irgend konnte, half mit zu retten.Warum brauchen wir erst Naturkatastrophen, um zu entdecken, welche gemeinschaftsstiftende Kräfte in uns angelegt sind und wie gefährlich unser Größenwahn ist zu glauben, dass die Natur uns gehöre und wir nicht vielmehr ihr gehören? Es ist der gemeinsame egomanische Wahn, der die Einsicht darüber verwehrt, dass die Fülle neuer Naturkatastrophen nicht unverschuldet über uns hereinbricht, dass vielmehr die menschengemachte Klimaveränderung eine unleugbare Rolle spielt.Es ging um mehr als um Vergeltung, es ging zugleich um überkompensatorische Abwehr unterdrückter OhnmachtsängsteDabei fällt der Blick dann wieder auf die einzige verbliebene Supermacht, die sich - ähnlich wie bei einer Reihe anderer internationaler Verpflichtungen - einer unerlässlichen Klimaschutz-Konvention entzieht. Die Führungsnation des Westens, die ihre Prinzipien und ihren Way of Life zum allgemeinen Wohl weltweit verbreiten will, macht sich zum Negativbeispiel für die Verleugnung unserer gegenseitigen Abhängigkeiten und unserer gemeinsamen Umweltverantwortung. Man kann diese Egomanie auch als die Krankheit, nicht leiden zu wollen, bezeichnen. Wenn man nicht leiden will, muss man hassen. Ich erinnere mich noch genau an eine kleine Kontroverse mit Egon Bahr, der voll von der Überzeugung durchdrungen war, die schockierten Amerikaner nach dem 11. September würden nun endlich ihr Angewiesensein auf eine echte Partnerschaft mit den Europäern begreifen und sich vom Kurs der Eigenmächtigkeit abkehren. Aber die herbeigeeilten europäischen Helfer fanden keinen leidgeprüften Patienten, sondern einen trotzigen Kriegsherrn vor, der sie nur für die Verstärkung seines militärischen Potentials zum Kampf gegen das Böse beanspruchte. Wenige tausend Al Qaida-Verschworene wurden für den Präsidenten zum Anlass, eine gewaltige Kriegsmaschine anzuwerfen und den an sich schon gigantischen Militärhaushalt um 120 Milliarden Dollar auf 451 Milliarden aufzustocken. Er rief zu einem gleich mehrjährigen Feldzug auf, also zu einem Unternehmen, das weit über das Ziel der von der UNO gebilligten Selbstverteidigung hinausgehen würde.Der zuvor im eigenen Land noch mit viel Skepsis eingeschätzte Präsident erntete, wie einst sein Vater bei dessen Golfkrieg, auf der Stelle begeisterte patriotische Zustimmung. Plötzlich war er, so wie er sich auch selbst sah, der zur Ausrottung des Bösen himmlisch Berufene. Keinesfalls durfte der 11. September als Mahnzeichen für die eigene Verletzbarkeit gedeutet, vielmehr sollte diese durch Ausrottung des Terrorismus und durch einen weltweiten Überwachungsapparat endgültig eliminiert werden. Schon das Übermaß des kriegerischen Aufwandes und das Pathos einer militanten Heilsrhetorik machten aber eine tiefe Verunsicherung deutlich. Es ging um mehr als um Vergeltung, vielmehr zugleich um überkompensatorische Abwehr unterdrückter Ohnmachtsängste. Denn natürlich drängte sich die Ahnung auf, dass die stärksten Waffen, selbst ein perfektes Raketenabwehrsystem nebst einem an die bürgerlichen Freiheitsrechte rührenden Polizeiapparat nicht ausreichen würden, das Glaubensziel perfekter Unverwundbarkeit zu erreichen. Die egomanische Verblendung sorgt aber dafür, das Unmögliche mit aller Gewalt dennoch erzwingen zu wollen.Wie anders wäre zu verstehen, dass Präsident Bush - bisher wenigstens - präzise der illusionären Strategie Sharons folgt, der starrsinnig darauf beharrt, das Leiden seines Volkes, verursacht durch die Selbstmordanschläge der Palästinenser, mit Panzern und Raketen beenden zu wollen. Lernfähigkeit setzt prinzipiell Bereitschaft zu Selbstkritik voraus. Diese aber kommt dem abhanden, der sich als auserwählter Vollstrecker göttlichen Willens oder gar als selbstvergöttlichte Heilsfigur erlebt.Als der amerikanische General Thomas Farrel die atomare Bombardierung Hiroshimas beobachtete, erschien ihm das als Signal des Jüngsten Gerichtes, verhängt über die schrecklichen Japaner, die in den Medien systematisch als Tiere, als Ratten oder Affen dehumanisiert worden waren. Bis heute hat kein amerikanischer Präsident je Hiroshima öffentlich bedauert oder gar ein Wort der Entschuldigung über die Lippen gebracht. Die Selbstgerechtigkeit verbietet es, in der vermeintlich ruhmvollen Tat das Verbrechen gegen das Völkerrecht und die Menschlichkeit zu erkennen. Ebenso mussten die Untaten in Vietnam bald verdrängt werden, obwohl z.B. allein das dort versprühte dioxinhaltige Kampfgift unermessliche Zerstörungen angerichtet hat. Experten haben ausgerechnet, dass die angewandte Menge Dioxin, wäre sie gleichmäßig über die Menschheit verteilt worden, ausgereicht hätte, alles menschliche Leben gleich mehrfach auszulöschen. Eingeredet hat man uns aber, das Gift habe nur zur Entlaubung der Wälder gedient, um den Feind besser ausspähen zu können. Wehe, wer heute noch den Vietnamkämpfern Böses nachsagt und mit Chemiewaffen nicht nur Saddam Hussein assoziiert.Während wir uns einbilden, dass unser Zivilisationsprozess tatsächlich ein Prozess sei, also ein Fortschreiten zu höherer Zivilisiertheit, verkennen wir, dass die Erfindung und Modernisierung der Massenvernichtungswaffen mit einer parallelen psychologischen Entmenschlichung der potentiellen Opfer einhergeht. Man kann mit diesen Waffen nur drohen oder sie sogar anwenden, wenn man von der Welt der Guten, mit denen man sich selbst identifiziert, die Bösen abspaltet, deren Ausrottung man vertretbar erscheinen lässt. Ausrottende Waffen und Ausrottungsmentalität gehören zusammen.Wehe, wer heute noch den Vietnamkämpfern Böses nachsagt und mit Chemiewaffen nicht nur Saddam Hussein assoziiertDass die Beendigung des Kalten Krieges nicht zur gemeinsamen Verschrottung der Nuklearwaffen geführt hat, beweist, dass die Ausrottungsmentalität nicht überwunden ist. Wenn die neue Nuklearstrategie des Pentagon nun dazu übergegangen ist, sogar nuklearwaffenfreie Länder entgegen einer feierlich versprochenen Schutzgarantie atomar zu bedrohen, so ist dies nur ein neuer Beweis dafür, dass gerade dort, wo die Zivilisation ihre großartigsten Fortschritte feiern zu können glaubt, in Wahrheit eine Entzivilisierung beängstigenden Ausmaßes stattfindet.Dass sich dagegen Entrüstung und Protest melden, ist geboten. Aber was bisher in unseren europäischen Ländern zu kurz kommt, ist die Entfaltung massiver Gegenkräfte. Unzweifelhaft hängt das mit der Mentalität zusammen, die kurz erörtert wurde. Stützt sich der Fortschrittsglaube zuallererst auf den Bemächtigungswillen, so werden automatisch dort die Maßstäbe gesetzt, wo der größte Machtvorsprung erobert worden ist. Das Verhalten der USA liegt präzise auf der Linie des egomanischen Freiheitsziels. Und da dieses Streben, wie uneingestanden auch immer, sich der westlichen Prothesengott-Gesellschaft insgesamt tief eingeprägt hat, erklärt sich daraus die Kläglichkeit des Widerstandes gegen die amerikanischen Eigenmächtigkeiten.Was deren Entfaltung behindert, ist eben die im Westen immer noch vorherrschende egomanische Illusion, dass eine errungene Vormachtstellung Unabhängigkeit von allen hemmenden Bindungen verheiße. Also werden dort die Maßstäbe gesetzt, wo dieser Vorsprung erkämpft worden ist. Insofern liegt das Verhalten der USA konsequent und präzise auf dieser Linie, und der Widerstand dagegen bleibt kümmerlich, solange kein fundamentales Umdenken stattfindet. Aber ein solches Umdenken regt sich nun - am spürbarsten unter den vornehmlich jungen Globalisierungskritikern, die sich in mehr als 30 Ländern zu der lockeren Organisation attac zusammengefunden haben. Sie erhalten großen Zustrom aus der Friedensbewegung, den Gewerkschaften, den Umweltschützern und der Frauenbewegung. Hier sind neue Hoffnungsträger, die sich durch den Druck unserer durchorganisierten Gesellschaften nicht einschüchtern lassen. Die wollen, dass man sie mitzählt, nicht nur bei Meinungsumfragen und Wahlen, sondern in ihren Initiativen als verantwortliche Mitgestalter einer solidarischeren Welt. Das ist keine realitätsferne Utopie, sagen sie, vielmehr sei es eine Utopie zu glauben, wir könnten ohne selbstzerstörerische Katastrophen so weitermachen wie bisher.Horst-Eberhard Richter, geboren 1928 in Berlin, ist Psychoanalytiker und Psychosomatiker. Bekannt ist er durch zahlreiche Publikationen, unter anderem das Buch Der Gotteskompex, und durch sein Engagement für die Friedensbewegung. Derzeit ist er Geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt a.M. In diesem Jahr veröffentlichte er im Kiepenheuer Witsch-Verlag Das Ende der Egomanie. Die Krise des westlichen Bewusstseins.
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