Musterschüler des Wertewestens: Die neue grüne Kriegsrhetorik
Ukrainekrieg Kriegsängstliche Ostdeutsche und westdeutsche Wertekrieger? Unser Autor hat eine These, warum der Bellizismus dieser Tage so grün und westdeutsch daherkommt
Berufswunsch Kriegsberichterstatterin: Annalena Baerbock wuchs im Westen auf, das ist ihr noch heute anzumerken
Foto: Thomas Köhler/GETTY IMAGES
Der Ukraine-Krieg hat auch in der deutschen Politikrhetorik ordentlich mobilgemacht. Ein Sprachbild schaffte es sogleich bis in Regierungskreise: Man sei „in einer anderen Welt aufgewacht“, „Gewissheiten von gestern“ seien ungültig, „die Wirklichkeit“ nicht mehr dieselbe, eine „regelbasierte Ordnung“ beschädigt. Kurz, die Gründe für guten Schlaf seien dahin. Die Häme aus oppositionellen Meinungsmilieus ließ nicht auf sich warten. Doch Werte-Unionisten und Transatlantiker teilten das Selbstbild der soeben Erwachten: Man würde gern nach Regeln und Normen leben, diese aber seien vorerst allein „unsere“, also „westliche Werte“, nicht die aller Welt. Man würde sein Fleisch oder seinen
nen Tofu gern mit Besteck essen, doch gebe es auf Erden weiterhin reißende Wölfe, etwa Russen, also „nur europäisch aussehende“ Menschen – wie es die deutsch-französische Politologin Florence Gaub, Vizedirektorin des in Paris angesiedelten Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien, im April in der Talkshow von Markus Lanz auszudrücken wusste.Auch gelbe und rote Ampler kommentierten den Ernstfall mit kontrafaktischem Pathos. Von ihrem jähen Erwachen auf einem Wolfsplaneten sprachen am inbrünstigsten jedoch die Regierungsgrünen. Mit historischem Recht, denn als politische Vorhut neudeutscher Bürgerlichkeit muss in ihnen der Glaube, dass sich Moral („Wertebasiertheit“) materiell auch auszahlt, am tiefsten wurzeln. Dieser Glaube an die Synthese von gutem Leben und gutem Gewissen datiert nicht erst seit dem absolvierten Marsch in die Institutionen. Nein, er konnte sich im grünen Politik- und Geschichtsverständnis schon in den 1980ern durchsetzen, ablesbar an der Entscheidung gegen den Radikalökologismus und für den Supraindustrialismus – ethischer Konsum, saubere Technologie. Auch die rasche Mutation vieler Antiautoritärer zu Antitotalitären und Transatlantikern um die Jahre 1989/90 zeigte solche Denkmuster, etwa im Geschichtsbild: Im letzten Weltkrieg habe mit „den Alliierten“ das materiell, weil moralisch Überlegene gesiegt. Von den Alliierten sprachen BRD-Spitzengrüne nun so vertraulich, als wären es die eigenen und ausschließlich westliche gewesen.Erwachen auf dem WolfsplanetenDie Idee einer grünen, „wertebasierten“ Weltpolitik zitiert den Weltmissionsgedanken der Vereinigten Staaten von Amerika und verfremdet ihn zugleich. Weltpolitik wird durch Weltmacht möglich. Doch die materielle Gewalt, Verantwortung und folglich Schuld dieser inzwischen multipolar gesplitteten Weltmächtigkeit soll nicht ins moralistische Innere des Grünfühlens dringen. Deswegen wirken Regierungsgrüne nach ihrem angeblich verantwortungsethischen Erwachen zur Realpolitik noch gefühls- und gesinnungsfrömmer als zuvor, geradezu ostentativ harmlos. Man denke etwa an Außenministerin Annalena Baerbocks Bundestagsrede vom 27. April über „Artilleriegeschütze“ und „Tierpanzer, die vorher niemand kannte“ – „für uns alle was ganz Neues“, was nun „den Menschen“ erklärt sein will. Was tönt daraus, wenn nicht das Vertrauen politischer Unschuld, dass ihr der Schmutz und das Blut der Welt auch weiterhin durch Geldmittel, Waffentechnik, Berufsheere ferngehalten würden?Als geschändet erwachter Unschuld ist es Regierungsgrünen erlaubt, sich politisch urteilsfähig wie moralisch unangreifbar zu fühlen. Die globalethischen Ansprüche – Weltklimapolitik, Weltwirtschaftspolitik, Weltsozialpolitik, kurz: Weltinnenpolitik – sind nicht aufgegeben. Doch mit der bedrängten Ukraine ist ein neuer Kandidat des „Werte“-Engagements erstanden.Das erfordert einige robuste Umdeutungen: Der Abwehrkrieg einer Nation (und ihres Nationalismus!), die Verteidigung eines Staatsterritoriums sind zum Kampf für die europäische Friedensordnung, ja für die Weltfriedensordnung erhoben. Die Ukraine gilt ihren neuen Freunden und Freundinnen als Vorkämpfer des demokratischen Westens in Osteuropa. In dieser Idee einer nationalstaatlichen Konkretion des Universalethischen finden Meinungsmilieus zusammen, die gestern noch verfeindet waren. Den Regierungsgrünen ist – nach einer kurzen, höhnischen Ansprache à la „Welcome to reality“ – zumindest in dieser Sache inzwischen der Beifall selbst von Springermedien sicher. Die einstige Partei der Bundestags-Flurtänzerinnen ist zur Wertewestlichkeit erwacht und setzt sofort auf schweres Gefährt.Spätberufen transatlantischDoch manche Metaphern sind umkehrbar. Vielleicht wollen die Spätberufenen des Wertewestens gar nicht aufwachen, sondern, ganz im Gegenteil, in den „alten Gewissheiten“ weiterträumen, etwa in denen des Kalten Krieges? Seine zombiehaften Züge verdankt das neue, grüne Transatlantikertum weniger dem moralisch verbrämten Machtopportunismus. Dieser war schon bald nach 1990 in der Mutation der bis dato sponti-antiautoritären Westlinken zu wahren „Rottenschließern des Amerikanismus“ – so damals der Philosoph Panajotis Kondylis – voll erblüht. Gespenstisch wirkt der grüne Bellizismus indessen vor allem wegen seiner historischen Verspätung. Die westliche Führungsmacht hängt seit Jahrzehnten am Kredittropf Chinas, der Isolationismus wird in den USA auch nach Trump eine geostrategische Option bleiben. Das grüne Einkuscheln in unilateralistische, de facto also transatlantische Träume von einer „wertebasierten Weltordnung“ wirkt da geradezu nostalgisch.Hierzu passt auch ein häufiger historischer Versprecher, der rund um das Kriegsgeschehen oft zu hören ist: „Die europäische Nachkriegsordnung“ sei durch den Ukraine-Krieg bedroht wie nie zuvor. Gemeint ist damit die Ordnung nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges 1989/90. Vielleicht ein historisches Bildungsdefizit, gewiss aber eine genuin altbundesdeutsche Befindlichkeit: Seit der Teilstaatsgründung im Jahr 1949, spätestens aber seit den Pariser Verträgen von 1954 war man im deutschen Westen ja tatsächlich in eine übernationale „Wertegemeinschaft“ eingerückt. Der deutschen und überhaupt jeglicher Nationalgeschichte schien man wundersam entronnen zu sein – und somit auch allem, was an ihr haftete an Schuld und Schulden. Für beides wurden die Westzone und dann die Bundesrepublik moralisch wie materiell nur höchst selektiv in die Pflicht genommen.Die Bundesrepublik vor 1989 war ein höchst seltsames Gebilde. Sie war zugleich eine Nicht- und eine NATO-Nation. Das verlieh dem Leben der alten Bundesrepublikaner eine traumhafte Sekurität und Beschaulichkeit, auf deren Andauern man immer fester vertraute. Man lebte landschaftlich und fühlte transatlantisch, bald gar weltbürgerlich. Nach 1989 erkannten gerade die jüngeren Generationen Westdeutschlands, wie gut sie damit doch gefahren waren. Ihr zunächst durchaus spürbarer Groll ob der – erzwungenen – Rückkehr in eine deutsche Einheitsgeschichte sollte bei vielen Grün- und Linksprogressiven des Westens rasch verrauchen, etwa angesichts der plötzlichen Osterweiterung ihrer persönlichen Karriereräume.Diese Enkel der Spaltung besetzen heute Führungspositionen in einem Land, das ihnen übereignet ist, nicht in einem Land, als dessen lebendes Eigentum sie sich jemals hätten fühlen müssen. Auch aus ihrer insgeheim so glücklichen Erinnerung an die deutschen Spaltungsjahre erklärt sich am Ende der forsche Ton, in dem all die Altbundesdeutschen in Politik und Medien nun über den Ernstfall befinden.Die alte deutsche DemarkationGroßdeutschland hatte vor 80 Jahren bekanntlich einen Krieg begonnen, den Westdeutschland gewonnen und Ostdeutschland verloren hatte. Die neue Grenze zwischen Wertekriegern und Kriegsängstlichen erinnert nicht zufällig an die alte Ost-West-Demarkation. Es ist die Grenze zwischen einem Deutschland, das für die Jahre 1941 – 1945 zu bezahlen hatte, und einem anderen Deutschland, das davon nicht nur freigesprochen war, sondern nach Kräften aufgepäppelt wurde. Die politische Buße, die dem Westen Deutschlands nach 1945 abgefordert wurde, fiel leicht: ein Antirussizismus unter nicht mehr antibolschewistischem, sondern antitotalitaristischem Vorzeichen, schließlich die Wiederauferstehung des besiegten Deutschlands im Wertewesten, einem schier weltweit lieferbaren Exportgut. Ostdeutschland hingegen haftete erdschwer auf nationaler Scholle. Es trug fast die gesamten Reparationen für den Krieg mit der Sowjetunion, ähnlich wie ein Halbjahrhundert später Russland die Schulden der zerfallenen UdSSR. Im ostdeutschen Kollektivgedächtnis sind daher die Kosten eines Konflikts mit Russland immer sehr präsent geblieben.Die Schneidigkeit der Mobilmacher tönt meist in westdeutschem Lokalakzent. Die Tugenden des neubundesdeutschen Bürgertums – Gefühlswerte von Spontaneität, Authentizität, Empathie – können sich jetzt realpolitisch beglaubigen. So preisen nicht allein die GEZ-Medien die „Frische“ und „Verve“ der Robert Habecks, Anton Hofreiters & Co., loben insbesondere die unbefangene Natürlichkeit der neuen Außenministerin, ihre „Zugewandtheit“ gegenüber den bedrängten Demokratien Osteuropas und deren Wünschen. Instinktsicher erspüren die Medienschaffenden in Annalena Baerbock die Erbin guter alter Alt-BRD-Zeit. Die Außenministerin – Berufswunsch: Kriegsberichterstatterin – „erklärt den Menschen“ Weltkrisenfälle und „wertegeleitete Außenpolitik“. Zugleich lädt sie „die Menschen“ etwa beim Besuch im Baltikum ein, darüber zu sprechen, was der Krieg mit ihnen macht: „Darum bin ich hier, um mich in eure Haut zu versetzen“, um die Lage „ein bisschen nachempfinden“ zu können. „Wir hören euch, wir sehen euch, wir stehen fest an eurer Seite.“Derartige Jovialismen beschwören verbal Westdeutschlands politische Nachkriegsmentalität. Ihr bedeutete die Synthese aus materieller Re-Construction und moralischer Re-Education ein zeitloses Modell. Zeitgemäß daran ist die affektstolze Codierung, die grüne „Werte“-Politik „zum Anfassen“. Es geht um die Pflege eines bestimmten Gefühls von sich selbst. Baerbocks Ankumpeln von Völkern und Staaten machte das unmissverständlich klar. Die deutsche Außenministerin ist damit die ideale Repräsentantin – ihrer Partei, ihres Landes, ja einer ganzen Politikgeneration. Da die Grünen moralisch-kulturelle Avantgarde des neuen Deutschlands sind, geben sie den Ton vor, in den jede Wehrdienstbefreite und fast jeder Ex-Zivildienstleistende einstimmen kann.Diese totale Mobilmachung der spätberufenen Ungedienten jedoch wirkt wie die leibhaftige Auferstehung der Alt-BRD und ihres notorisch kurzen historischen Gedächtnisses: Es ist, als ob man sich vorm Blut-und-Kälte-Strom aus dem Osten noch einmal dicht um seine Erinnerungen zusammendrängte und darin verborgene Schätze eines ewigen, weil imaginären Westens entdeckte. Nicht allein in öffentlich-rechtlichen Presseclubs wetteifern ja taffe Mädchen und smarte Jungs darum, der Bundesregierung „mehr Mut“, „mehr Verve“, „mehr Engagement“ bei der Wahrnehmung fremder Sicherheitsinteressen abzufordern – nicht unbedingt eigener, denn das wäre schmutzig konkret. Das zum Wertewesten erweckte Gründeutschland träumt weiter, treibt Kriegspolitik um des Gemütsfriedens willen. Was nützte es auch, wenn die Welt gerettet und die Seele verloren wäre?Placeholder authorbio-1
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