Annett Gröschner

Das Jahr 1685 gilt als das Geburtsjahr der Hyazinthenzucht in Berlin. Es war die Zeit, als die Hugenotten in großer Zahl in die Mark emigrierten, im Gepäck auch die eine oder andere Blumenzwiebel. Es war schwer, einen geeigneten Boden für den Anbau der vorher in Berlin ganz unbekannten Blume zu finden. Man entschied sich schließlich, es auf der Sandscholle der Flur des Vorwerks Boxhagen zu versuchen. Das war schon ein paar Jährchen später unter Friedrich dem Großen, der die Kosten zum Bau der Kolonistenhäuser und zur Düngung des Bodens übernahm. Den Kolonisten ging es nicht gut, sie galten als Ausländer und wurden dementsprechend behandelt, viele fristeten trotz schwerer Arbeit nur notdürftig ihr Leben. Von diesem Kapitel Friedrichshainer Geschichte ist noch der Name Gärtnerstraße übriggeblieben, die neben Grünberger, Krossener und Gabriel-Max-Straße den Boxhagener Platz umfasst. Er, der 1862 als Platz D, Abt. XIV, in den Hobrechtschen Bebauungsplan für Berlin gezeichnet wurde, ist für diese Gegend herrschaftlich groß geraten, anders als beispielsweise im Prenzlauer Berg, wo die Grundstücksgesellschaften die Plätze kleinfeilschten, um mehr Platz für den Bau verwertbarer Häuser zu haben. Selbst im Winter reichen am Spätnachmittag die Sonnenstrahlen noch bis auf die Rasenfläche. Die Punks, von denen die meisten schon die 40 überschritten haben, balgen mit ihren Hunden, und auf dem im Gegensatz zu früher etwas aufgehübschten Spielplatz klönen die Mütter. Der Platz hat dem Quartiersmanagement seinen Namen gegeben, das hier dafür sorgen soll, dass die Gegend sozial nicht umkippt und ins Visier des Innensenators gerät. Reich war man hier weder zu Friedrichs, noch zu den Zeiten, als der Stadtbezirk Friedrichshain Horst Wessel hieß. Und auch nach 1945 kam man gerade so über die Runden und die Einschüsse des Spartakusaufstandes waren noch Jahrzehnte zu sehen.

Es gibt drei Häuschen hier: Das Kaffeehäuschen, das Klohäuschen und das Trafohäuschen, die sich alle ähnlich sehen, auch wenn das Klohäuschen und das Trafohäuschen keine Fenster haben. Das Trafohäuschen wurde gerade unsterblich gemacht. Ein Kind namens Holger, Sohn des ABV, der mit dem Jungen "sein ganzes Pulver verschossen hatte", wie Oma Otti zu sagen pflegte, hat hier seinen Ball gegen die fensterlose Wand geschossen oder Jochen dem Kohlenträger und der schielenden Rita beim Knutschen zugesehen, sich mit Mirko Buskow geprügelt und mit Annemarie Peters aus der Juri-Gagarin-Oberschule gezofft, währenddessen im Fischladen gegenüber der Grünberger Straße 64 Fisch-Winkler ermordet wurde. Der war allerdings ein alter Nazi. Erfunden hat diese Figuren, die sich im Jahr 1968 über den Platz bewegten, Torsten Schulz, der hier einst als achtjähriger Union-Fan mit dem Trikot von Mäcki Lauck, das der beim legendären FDGB-Pokalfinale gegen Carl Zeiss Jena 1968 getragen hatte, den Ball gegen die Wand des Trafohäuschens kickte. Die literarische Figur Holger muss den Ball fallen lassen, wenn seine Großmutter Ottilie kommt und ihn mit zum St.-Petri-Friedhof nimmt, wo sie ihre fünf toten Männer mit der Gießkanne besucht und über Scheintote oder den Spitzbart Ulbricht referiert. Bis Seite 187 bringt sie noch zwei weitere Ehemänner unter die Erde.

Einen bedeutenden Platz in Torsten Schulz´ Roman Boxhagener Platz nimmt der "Feuermelder" ein. Der "Feuermelder" war bis vor kurzem noch in der Hand der Ureinwohner, die die Veränderungen am Platz mit ihren Hausbesetzungen und Latte-Macchiato-Offensiven wie eine Kinderkrankheit betrachteten, die vorbeigehen würde. In der Gegend wurde immer viel getrunken und das meiste im "Feuermelder". Der letzte Wirt war berühmt-berüchtigt dafür, dass er alle Gäste herauskomplimentierte, die nicht mindestens seit 20 Jahren hier Stammgast waren. Er zockte die Skatspieler ab und verrechnete sich häufig. Sagen die, die nicht dazugehörten. Verständlicherweise saß er irgendwann nur noch alleine in seiner Kneipe und gab irgendwann auf. Heute herrscht unter neuer Ägide "self service", wie eine Tafel neben dem Eingang verkündet. Es gibt "Kaffee zum Gehen" und Tische und Stühle auf dem Bürgersteig nebst der Aufforderung, nach 22 Uhr nicht mehr laut zu sprechen. Die Gardinen mit den riesigen Brandlöchern drinnen hat jemand abgenommen. Auch die Daddelautomaten und die Skatspieler fehlen, und Anton der Neigentrinker und Bierdeckelesser ist längst tot. Aber der war sowieso nur eine literarische Figur.

Hyazinthen wachsen nicht mehr am Boxhagener Platz, die zahlreichen Hunde würden mit ihrer Marke ihren Duft zerstören oder verliebte Jungs sie nachts ihren Angebeteten pflücken.

Am Rand des Platzes sitzen zwei ältere Männer in Rollstühlen, die stark berlinern: Friedrichshainer Dialekt, wie der ABV wohl in sein Protokoll schreiben würde, aber der macht seit 34 Jahren Schreibstubendienst in Pankow.


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