Wenn in On the Milky Road eine Bombe einschlägt, dann hat man das Gefühl, sie schlüge direkt in den Film selbst ein. Nicht unbedingt deshalb, weil mit dem Einschlag ihre donnernde Negativität spürbar würde, wie das etwa gerade in Christopher Nolans Dunkirk passiert, sondern weil sie den Film selbst auf bestimmte Art und Weise in Stücke zerschießt, die dann in alle möglichen Richtungen davonfliegen und uns die Orientierung rauben.
Am Anfang sehen wir den Milchmann Kosta, gespielt von Regisseur Emir Kusturica persönlich, auf einem Packesel trabend seine Milch an die Frontlinien des Balkankriegs ausliefern. Dort schlagen überall und mit höchster Frequenz Bomben ein; die Soldaten, die hier zwischen sattbuntem Gemüse gerade ein mit
m Gemüse gerade ein mittägliches Rührei vorbereiten, schimpfen – gerade ist doch Waffenstillstand, oder nicht? Man duckt sich weg, aber unterhält sich weiter. Kosta setzt sich auf eine Bank, schlürft ein Ei aus der Schale, unbeeindruckt vom Kugel- und Bombenhagel um ihn herum. Man sei doch im Krieg und nicht im Zirkus, flucht ein Mann, der sich in Sicherheit bringt, als hätte er kurz was Nerviges zu erledigen.Tatsächlich ist das gar nicht so klar. Denn der Krieg wie der Zirkus bezeichnen beide Ordnungen des Chaos – bezeichnen beide, wenn man so will, Unordnungen. Und Kusturicas neuer Film, ein Liebesfilm vor dem Hintergrund des Balkankrieges, ist genau an solchen Stellen und Zeitpunkten interessiert, an denen diese Unordnungen ununterscheidbar werden. Gegen Ende – und man muss dieses Bild vorausschicken, um die wunderliche Schönheit dieses Films zu fassen – kulminiert genau das in einer großartigen, fürchterlichen, restlos bizarren Einstellung: In der Totale sehen wir, wie eine Herde Schafe durch ein Minenfeld getrieben wird. Einzelne Tiere werden zerfetzt und in die Luft gewirbelt: eine groteske Mischung aus Blitzen, Blut und Blöken; aus Zerstörungs- und Schauwert des Sprengstoffs. Eigentlich wissen wir nie genau, was wir sehen, wenn wir On the Milky Road sehen; eigentlich zersprengt uns dieser Film das Sehen wie eine Bombe einen Unterstand oder ein Minenfeld eine Schafherde. Das Verheerende mischt sich mit dem Schönen, die Katastrophe mit dem Slapstick, der Krieg mit dem Zirkus. Wie soll man sich da orientieren?Schmetterlinge als RetterDass es bei Kusturica, dem zweifachen Gewinner der Goldenen Palme in Cannes, drunter und drüber geht, weiß man seit seinen frühen Filmen – insbesondere seit den beiden Erfolgen aus den 1990ern Underground und Schwarze Katze, weißer Kater. Dinge und Menschen spielen verrückt, Probleme löst man mit Sliwowitz – indem man ihn trinkt oder jemandem die Flasche über die Rübe zieht –, die Schnitte sind schnell, die Tanzmusik noch schneller, ständig wird gefeiert, meistens Hochzeiten.Auch in On the Milky Road geht es um Hochzeiten. Wenn der Krieg endlich zu Ende ist, soll Kosta die aufgedrehte Milena (Sloboda Mićalović) heiraten, die früher einmal eine tolle Turnerin war. Darauf hat er aber wenig Lust, denn viel lieber würde er die schöne italienische Dame heiraten, die sie bei sich aufgenommen haben, die von allen schlicht Braut genannt wird und die von Monica Bellucci – gerade erst Bond Girl (oder eher: Bond Woman) gewesen – wohl tatsächlich eher verkörpert als gespielt werden soll. Die Braut ist nun blöderweise aber Milenas Bruder Žaga versprochen, der mit entstelltem Gesicht und auf grotesk riesigem Trike bald in die Postkartenidylle kriegsheimkehrt. In der Liebe ist es so chaotisch wie im Krieg – so ist es dann auch kein Wunder, dass der eigentliche Krieg erst beginnt, als Kosta und die (falsche) Braut ein Paar werden.Ein britischer General, der aus Liebe zu der Italienerin einst seine Ehefrau ermordete, schickt nun Söldner in den gerade befriedeten Balkan, um sich an der Braut zu rächen. Auf den Balkankrieg folgt, so könnte man sagen, eine Art Trojanischer Krieg. Die Liebenden müssen fliehen, verstecken sich in Holzhütten am See oder in riesigen Baumkronen. Die Söldner kommen mit Flammenwerfern und Maschinengewehren; brutzeln Häuser nieder, knallen ab, was ihnen in den Weg läuft.Mit dem Einzug der Liebe in den Film kommt das Magische, Wundersame: Immer wieder öffnet die Natur den Liebenden schützend ihre Räume – man versteckt sich tauchend unter Wasser, im Dickicht der Bäume, im Schilf. Schlangen und Schmetterlinge retten Menschen das Leben; Schafe opfern sich im Minenfeld. Die Menschen beginnen zu fliegen, die Vögel werden regenbogenbunt, reißende Wasserfälle fallen in Zeitlupe. Man kann sich nicht orientieren in Kusturicas Magischem Realismus.Stets geschieht alles gleichzeitig: die tierfabelhaften Bilderwelten und die Slapstickeinlagen im Bombenhagel, die Postkartenansicht und die Massenmordszene, der Held und der Clown auf dem Esel, die Braut und die Bellucci, die stets hinter ihr durchschimmert. Man muss On the Milky Road im wahrsten Sinne überwältigend nennen – und zwar schlicht deshalb, weil wir in jeder Sekunde darauf zurückgeworfen sind, zu glauben, was wir sehen, und in keiner Sekunde die Garantie haben, tatsächlich das zu sehen, was wir glauben zu sehen.Dass der Film am Ende zur Religion führt, wenn er uns Kosta 15 Jahre später als Gottesdiener zeigt, der sich mit einem Braunbären von Mund zu Schnauze eine Orange teilt, ist da nicht nur folgerichtig, sondern in einem seltsamen, aber auch authentischen Sinne fast erlösend.Placeholder infobox-1
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