Sie sind wieder da. Die Diskussionen über den Vietnamkrieg und die Nachrichtenbilder von ehemaligen Soldaten, die 1971 den Park vor dem Weißen Haus belagerten, um Richard Nixon vom Truppenabzug zu überzeugen. Auch die künstlerischen Arbeiten aus der Vietnam-Ära sind wieder im New Yorker Whitney-Museum zu sehen, und selbst die Zahl der Vietnamveteranen, die in den letzten Monaten klinische Hilfe wegen posttraumatischer Stresssymptome suchten, ist dramatisch angestiegen. Die amerikanische Öffentlichkeit wird mit unübersehbarer Deutlichkeit vom Trauma ihres verlorenen Kriegs verfolgt, das auch nach Jahrzehnten noch überraschend lebendig scheint.
Bei der neuen amerikanischen Obsession mit Vietnam handelt es sich nicht nur um eine Reaktion auf den Krieg im
n Krieg im Irak, der das Land auf eine ähnlich profunde Weise spaltet, und von dem viele fürchten, dass er genauso enden wird wie der im Mekong-Delta. Der wiederbelebte Vietnam-Komplex ist ebenso eng an die Figur John Kerrys gebunden. Noch nie zuvor wurde ein Vietnamveteran oder gar ein Protagonist der Antikriegsbewegung für die Präsidentschaft nominiert. Kerry ist beides zugleich und repräsentiert damit einen schwelenden Konflikt im amerikanischen Nationalbewusstsein. Die republikanischen Wahlkampfstrategen konnten den Kandidaten so mithilfe der rechtskonservativen Gruppe "Swift Boat Veterans for Truth" als einen unpatriotischen Hippie karikieren, der er in der Tat nie war. En passant wurde ein altes amerikanisches Feindbild revitalisiert, mit dem sich auch die heutigen Gegner des Irak-Krieges recht wirksam diskreditieren lassen: Die Friedensbewegung der sechziger und siebziger Jahre, die das konservative Amerika mit den bekannten Assoziationen von Flower-Power, Hanoi-Jane, Marijuahna und freier Liebe in eine unbeschreibliche Wut versetzt. Präsident Bushs eigener Vietnam-Skandal scheint der fantasmatischen Sprengkraft dieser Konstellation um einiges nachzustehen. Die amerikanischen Medien diskutieren allenfalls die Zweifel an der Echtheit von Bushs Militär-Dokumenten, nicht aber den Sachverhalt, dass sich der Kriegspräsident vor dem Kriegsdienst gedrückt hat.Doch wenn Kerry vor 30 Jahren auch ein Kriegsgegner war, heute ist er es nicht mehr. Das amerikanische Denken über den Sinn von Krieg hat nicht nur auf der Seite Bushs eine erstaunliche Rückwärtsbewegung gemacht. Auch für die Demokraten scheint die Lehre aus dem Vietnamkrieg, jene grundsätzliche Skeptik gegenüber der Legitimität amerikanischer Militärinterventionen im Ausland, endgültig obsolet geworden zu sein.Die republikanische Schlussfolgerung aus Vietnam war schon immer, dass man lediglich die Streitkräfte ausbauen und effizienter machen müsste, um auch solche Kriege zu gewinnen. Die alarmierenden Rhetoriken von "gut" und "böse", die christlich-fundamentalistischen Kriegsmetaphern und die proklamierte Überlegenheit der Werte der "großartigsten Nation der Erde" der letzten vier Jahre waren dabei keine Erfindung von George W. Bush. Eher brachten sie eine Logik ans Licht, die in den meisten politischen Diskursen Amerikas schon immer latent war. Irak sollte nach dem Willen Bushs die Geister des verlorenen Vietnamkriegs endgültig verbannen. Mit aggressiven "Schock-und-Angst" - Attacken sollten die Vereinigten Staaten der Welt zeigen, dass sie nicht weich geworden waren und sich auch von Terroranschlägen nicht einschüchtern lassen würden. Die allgegenwärtige Rückkehr Vietnams lässt erkennen, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist.Möchten die Vereinigten Staaten ihrem kollektiven Vietnam-Syndrom entkommen, muss die perverse Simplizität der politischen Diskurse komplexeren Sichtweisen weichen. Das vorherrschende politische Verständnis erweckt in vielen Punkten den Eindruck, als hätten sie den Sprung ins 21. Jahrhundert verpasst, so wie sie ihre eigene Kriegsgeschichte, aber auch die veränderten globalen Bedingungen und Definitionen von Grenze, Nationalität und Terrorismus diskutieren. John Kerry wäre es zuzutrauen, solche Diskurse anzustoßen. Dafür müsste er jedoch, am besten mit jener Inspiration des smarten und eloquenten Kriegsgegners von vor drei Jahrzehnten, endlich eine klare Stellung zum Irakkrieg beziehen. Bis dahin werden die Vietnam-Bilder im amerikanischen Bewusstsein haften bleiben oder bestenfalls als irritierende Zitate wiederkehren. In demselben Park vor dem Weißen Haus, wo Veteranen 33 Jahre zuvor gegen den Vietnamkrieg protestierten, demonstrieren heute ultrakonservative Kriegsversehrte gegen den angeblich mangelnden Patriotismus von John Kerry.