Nobelpreisträgerin Jelinek jubelte, und Literaturpapst Reich-Ranicki brummte: Der Literaturnobelpreis des Jahres 2007 geht an die britische Schriftstellerin Doris Lessing. "Dies ist eine der wohl durchdachtesten Entscheidungen, die wir jemals getroffen haben", kommentierte Horace Engdahl, der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie in Stockholm, die Entscheidung, die allseits überrascht hat. Hohe Wetten waren - nicht nur beim Londoner Buchmacher Ladbrokes, dem größten der Welt - auf den Amerikaner Philip Roth gelaufen. Zu den Top Ten bei den Nobelpreis-Zockern zählten auch der Italiener Claudio Magris, der Peruaner Mario Vargas Llosa, der Japaner Haruki Murakami und - die Frau in der Favoritenrunde - die Amerikanerin Joyce Carol Oates. Doris Lessing w
g war nicht dabei. Aber Horace Engdahl hat Recht: Es ist die wohl durchdachteste Entscheidung, die von der Akademie jemals getroffen wurde. Schließlich wurde 45 Jahre lang darüber nachgedacht. Seit 1962, als The Golden Notebook (Das goldene Notizbuch) erschien, ein Buch wie ein Fanfarenstoß - und eines der größten Missverständnisse der jüngeren Literaturgeschichte.Gegen alle IdeologienIn The Golden Notebook lernen wir Lessings Alter Ego Anna kennen, die auf vielen Hochzeiten tanzt - und überall stolpert: als Schriftstellerin, als linkspolitisch Engagierte, als allein erziehende Mutter. Sie ist verwirrt, enttäuscht, bald gebrochen - wie viele Frauen ihrer Generation, die im Nachkriegsengland zwischen alten Rollenmustern und neuen Freiheiten hin und her lavieren. Der Roman zieht seine Heldin splitternackt aus, hält nicht hinterm Berg mit ihren mentalen und sexuellen Frustrationen. Und er zieht sie an, packt ihr Bewusstsein in unterschiedliche Kostüme, er fragmentiert und collagiert."Es ist ein Versuch, bestimmte Bewusstseinsformen zu brechen", erläutert Doris Lessing einmal. "Ich stellte beim Schreiben fest, dass ich von scheinbar völlig widersprüchlichen Dingen gleichzeitig felsenfest überzeugt bin. Und warum nicht? Wir leben mitten in einem Wirbelwind." Bis heute wehrt sie sich verärgert - und vergeblich - dagegen, dass sie mit ihrem Notizbuch als Pionierin und Ikone des Feminismus vereinnahmt und gefeiert wird. Das war sie nie, hat sie nie sein wollen, wie sie immer wieder verkündet. Die Selbstgerechtigkeit des Feminismus, der eine Bevölkerungsgruppe - die Männer - pauschal zum Sündenbock für alles stempelt und blind ist für die Widersprüche in der Welt, sei ihre Sache nicht.Dafür bekennt Lessing ohne zu zögern, einst flammende Kommunistin gewesen zu sein: "Was für Idioten wir waren!" - damals, in den Vierzigern, als sie ihren späteren zweiten Mann, den deutsch-jüdischen Kommunisten Gottfried Lessing, in Rhodesien (heute Simbabwe) in dem "Linken Buchclub" traf. Was sie später zur Tante von Gregor Gysi machen sollte - und zur Autorin Doris Lessing. 1919, als Doris May Taylor in Persien geboren, behielt die junge Frau nach der Scheidung von Lessing im Jahr 1949 den Nachnamen und führte sich 1950 als Doris Lessing in die literarische Welt ein.Ihr Debütroman The Grass is Singing (Afrikanische Tragödie) spielt in Rhodesien, wo die Romancière aufwuchs: Eine labile Weiße lässt sich auf eine verbotene Liebe mit einem schwarzen Farmarbeiter ein, und das Unglück folgt auf dem Fuß. Eine Beziehungsstudie und zugleich eine kraftvolle Kritik am Kolonialreich: Doris Lessing, Tochter überzeugter Briten, lief mit 15 von zu Hause weg - weg aus der sterilen Glasglocke der Weißen, wo sie als "Kaffir lover" verschrieen war, und weg von der Mutter, die über alles mit Argusaugen wachte. "Ohne die unglückliche Kindheit wäre ich wohl nicht zum Schreiben gekommen."Allein musste sie sich durchschlagen. Sie jobbte, sie heiratete, bekam zwei Kinder. Warf alles hin (dass sie ihre Kinder aus erster Ehe zurückließ, ist ein Kapitel, das sie selbst in ihrer zweibändigen Autobiografie nur verhalten anspricht), heiratete noch einmal, bekam noch ein Kind. Doch Doris Lessing ist wie ihre geliebten Katzen: Sie lässt sich nicht einengen. 1949 ging sie mit ihrem dritten Kind nach England, und ihre Karriere als Schriftstellerin begann.Schöner Impetus, unschönere Texte"Ich bin keine Autorin, die auf dem Level schreibt, den ich wirklich bewundere", verriet Doris Lessing, als 2001 ihr 25. Buch, The Sweetest Dream (Ein süßer Traum), veröffentlicht wurde. "Es ist nicht so, dass es mir keinen Spaß macht, aber ich nehme es nicht so ernst." Und zu dieser Einsicht kann man der Vielschreiberin nur gratulieren. Den Nobelpreis, so forderte der Stifter Alfred Nobel, soll bekommen, wer "das Vorzüglichste in idealer Richtung geschaffen hat". Und an der idealen Richtung mangelt es bei Lessing beileibe nicht. Egal, ob sie sich in ihrer kommunistischen, psychologischen oder, seit den Siebzigern, eher philosophischen, vom Sufismus inspirierten Phase befunden hat: Am schönen Impetus der Schriftstellerin - die Rhodesien und Südafrika zeitweilig nicht betreten durfte und die politische Korrektheit als die schlimmste neue Religion nach dem Kommunismus geißelt - ist nicht zu zweifeln. An der Vorzüglichkeit allerdings schon.Zwar taucht in Rezensionen seit langem regelmäßig das Wort von der "Nobelpreiskandidatin", ja, der "ewigen Nobelpreiskandidatin" auf. Doch während man der Südafrikanerin Nadine Gordimer, die 1991 als siebte Frau zu Nobel-Ehren kam, den Titel einer internationalen First Lady der Literatur zubilligte, ging die Kritik gerade mit den jüngeren Büchern der neuen Nobelpreisträgerin Lessing hart ins Gericht. Tatsächlich ist Lessings Wende zur Sciencefiction kein Glücksfall für die Literatur. Sie selbst freilich beurteilt ihre fünfbändige Soft-SF-Serie Canopus in Argos (1979 bis 1983) als ihr wohl wichtigstes Werk: Sciencefiction öffne Horizonte, ganz anders als die erstickenden, hübschen, sensiblen, typisch englischen Romane, die jedes Jahr herauskämen. Aber wenn Doris Lessing, geprägt von Idries Shahs Sufismus, in die Apokalypsen der Zukunft schaut, wie jüngst zum Beispiel in The Story of General Dann and Mara´s Daughter, Griot and the Snow Dog, wo Afrika - Ifrik -, Wüste und Morast, Jammertal und Krisenherd ist, dann muss der Leser auf Klischees schauen; auf einen naiven Text, der bei den Möglichkeiten des Genres Sciencefiction noch lang nicht angekommen ist, die Qualitäten guter, alter Geschichtenprosa jedoch schon weit hinter sich gelassen hat.Diese waren in den letzten Jahren eher in den kurzen Texten zu sehen: Die Grandmothers-Novellen (Ein Kind der Liebe) etwa zeigen Doris Lessing als Könnerin faktengestützten Fantasierens. Das Nobelpreiskomitee hat die 87-Jährige nun eben dafür ausgezeichnet: Der Preis geht an die Erzählerin "weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat." Das jedenfalls hat sie.Die Bücher von Doris Lessing erscheinen im Verlag Hoffmann (Hardcover) und S.Fischer (Taschenbuch).
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