Das Nicken der anderen
Den Film muss man auf der großen Leinwand gesehen haben!“ Schon vor den Corona-bedingten Schließungen diente dieser Schlachtruf als Allzweckwaffe der Kinokritik. Abweichende Meinungen konnte man so kurzerhand als die Unfähigkeit, „richtig zu gucken“, brandmarken. Schon lange lag darin auch ein gehöriges Stück Heuchlertum. Denn mehr und mehr Filme werden der Kritik gar nicht mehr im Kino vorgeführt, sondern als Screener per Streaming zur Verfügung gestellt. Von wegen große Leinwand! Je größer der Verleih, so die neue Faustregel, desto größer das Wasserzeichen mitten im Bild. Was vorher ein vereinzeltes Ärgernis war, hat sich mit Corona verstetigt. Filme auf der großen Leinwand scheinen nun endgültig in die Erinnerung verabschiedet (auch wenn ich persönlich an eine große Renaissance der Kinos „post-pandemie“ glaube). 2020 aber hat mir klargemacht, dass es bei der Frage Kino oder Couch nicht die Leinwand ist, die den Unterschied macht, sondern der Saal und die Ad-hoc-Öffentlichkeit der Kinovorführung. Mehr noch als die Reaktionen der anderen während eines Films vermisse ich das Danach: das gemeinsame Saal-Verlassen mit seinen eigenen Ritualen der Verständigung und des Austauschs. Das sind gar nicht mal immer Worte oder Argumente. Vor Letzteren muss man sich manchmal hüten – jetzt bloß nicht von Kollege O. M. die Ohren vollquatschen lassen! –, genauso wie vor den Fragen der betreuenden Presseleute. Was mir fehlt im ewigen Homeoffice ist das komplizenhafte Lächeln, in dem sich spontan Gesinnungsgemeinschaft kundtut, das vereinzelte Nicken, die hingeworfene Wiederholung eines soeben aufgeschnappten Zitats. Und wie eine scheinbar neutrale Bemerkung über das Wetter draußen, vorm Kino, manchmal mehr über den Film und das Gefühl, in dem er einen hinterlässt, verraten kann als jeder filmgeschichtliche Kommentar. Barbara Schweizerhof
Bücher der Stunde
Während die Pandemie noch andauert und Hacken schlägt, macht die Literatur schon kräftig einen auf Sinnstiftung. Analogien, die sich aufdrängen, apokalyptisches Denken auf Speed, vor allem die Klassiker waren hier gefragt. In Zeit und NZZ wurde Boccaccios Decamerone zeitgenössisch fortgeschrieben, Camus’ Pest grassierte, auch im Freitag wurde sie jetzt nicht mehr zuerst als Allegorie auf den Faschismus gelesen. Sogar Anne Franks Tagebuch musste für unsere existenzielle Erfahrung herhalten, befremdlich war das, „die junge Verfasserin zeigt uns an ihrem Beispiel, wie man Isolation verarbeiten kann“ (Tagesspiegel). Die FAZ betitelte einen Artikel dazu so: „Hölderlin mochte auch kein Homeoffice“. Für Neuerscheinungen war das Corona-Jahr so schwierig wie das Reisen, es sei denn, es handelte sich um einen Hohlweg „in den Tunnel der Menschheit“ (Matthes & Seitz). Alarmistische Erziehungsratgeber irritierten uns Eltern im wackeren Homeschooling. Und was tun mit den eilig geschriebenen Corona-Sachbüchern? Anderes, das ohne Corona den Zeitgeist getroffen hätte, wie Leif Randts Allegro Pastell, rutschte durch. Lieber endlich dieses oder jenes lang gehegte Vorhaben umsetzen, Jane Austen oder Krieg und Frieden, denn nun hatte man ja Zeit zum Lesen. Eigentlich! Denn warum überhaupt lesen, um sich ordentlich wegzubeamen, wo das bekanntlich besser geht mit Netflix?
Trotzdem: Für die Literatur war 2020 ein gutes Jahr. Mein Mitgefühl aber für jeden Roman, der floppte, für jeden Autor, dessen Lesetour ausfiel, Streaming rausgerechnet. Alle die Corona-Chroniken von Schriftstellern in den Zeitungen will man auch deshalb milde beurteilen. Ende März erscheint Steffen Kopetzkys Roman Monschau, er handelt vom Pockenausbruch in der Eifel im Jahr 1962, von einer Liebe im Ausnahmezustand. Es ist hoffentlich kein „Roman der Stunde“. Katharina Schmitz
Immerhin Theater!
Irgendwann fingen mit Aufkommen der Handys diese kreuzfahrtschiffmäßigen Ansagen auch im Theater an: „Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Mobiltelefon ausgeschaltet ist. Gönnen Sie sich für kurze Zeit den Luxus der Unerreichbarkeit“, ertönte als Stimmungskiller kurz vor der Vorstellung. Getoppt wurden diese altmodischen Theaterspaßverderber allerdings im Jahr 2020 von dem Corona-Sicherheitsbahnhof, in den jede Zuschauer*in eingespeist wurde. Von den wenigen Theaterpremieren, die ich vergangenes Jahr sah, haben mich diese Umstände am meisten beschäftigt: der getimte Einlass, der Einzelgang zum Sitzplatz, das Auf- und Absetzen der Maske nach Ansage, das freudlos kontrollierte Spielen auf Abstand.
Auf der Bühne zu sehen war eigentlich nur noch eine vage Erinnerung an das, was früher Theater gewesen war. Einmal schubsten sich die Spieler*innen sogar beim Applaus nervös in Abstandsordnung, es gab ja so viel zu beachten. Und über all diesem Trauma der heilige Ernst der Ausführung, als sei diese neue Normalität das Natürlichste der Welt. Das Theater als Schauplatz des Sehens verschloss so merkwürdig die Augen davor, in welcher Situation wir uns befanden, und machte weiter, als sei nichts passiert. Als sogenannte Theaterkritikerin fühlte ich mich nutzlos und fehl am Platz. Welche Aufgabe sollte ich da jetzt übernehmen? Viele Kritiken gingen dazu über, ein motivierendes Balkonklatschen zu absolvieren. Ganz toll sei es gewesen, wenn man bedenkt und überhaupt, immerhin Theater! Dankbar müsse man jetzt sein. Aber wenn sich in Pandemiezeiten alles verändert, alles auf den Prüfstand gestellt wird, wie es immer heißt, muss sich dann nicht auch die Kritik verändern? Welche Funktion kann sie übernehmen, welche Fragen muss sie stellen, wie kann sie den Wandel der Theaterkunst kritisch begleiten? Alles noch Fragen für die Zukunft, denke ich. Eva Marburg
Mensch oder Maschine
Am 5. März 2020 war ich auf meinem letzten Konzert. Ausverkauftes Haus, Berlin-Kreuzberg. Ein hygienisches Katastrophenszenario: schweißsatte Luft, maximale Kontakte, Abwesenheit von Abstand. Meldungen zum Coronavirus zirkulierten schon fast so heftig wie Aerosole, dennoch: Im Leben hätte ich nicht geglaubt, dass es das letzte Konzert 2020 für mich sein könnte.
Knapp ein Jahr später sind die meisten Läden wieder oder immer noch geschlossen. Nicht nur Musiker, auch Kritiker haben es schwer. Manchem von der Printkrise gebeutelten Fachmagazin hat die Viruskrise den Rest gegeben. Gemessen daran, dass viele Musiker seit Monaten ihre primäre Einkommensquelle vermissen, fühlt es sich generell falsch an, ein Urteil über ihr Werk in die Zeitung zu setzen. Aber ganz davon abgesehen: Muss man Musik überhaupt live sehen, um darüber schreiben zu können?
Die Krise nimmt der Kritik zunächst etwas ganz Offensichtliches: eine Möglichkeit, um zu beurteilen, ob der Künstler real kann, was auf der Platte verewigt wurde. Und ob – das ist viel wichtiger – er ein Mensch ist, der etwas mitzuteilen hat, oder eine Maschine, die eine Ware produziert.
Es fehlt aber auch etwas, das weniger auffällt, weil man schwer übers Nichtexistente reden kann. Diese Krise trifft nicht jeden gleich. Während Superstars wie Taylor Swift im Corona-Jahr Zeit und Muße fanden, gleich zwei Alben zu produzieren, müssen kleinere Künstler minijobben. Dabei ist die Musik derjenigen mit wenig Mitteln nicht selten die interessantere.
Kritik, die etwas aussagen möchte, muss die Verhältnisse berücksichtigen, unter denen ihr Gegenstand zustande kam. Und sie kann diesen Verhältnissen nicht gleichgültig begegnen. Wenn Popkritik daher nicht zur bloßen Produktbeschreibung verfallen möchte, kann sie nur hoffen, dass diese Krise ein Ende findet. Konstantin Nowotny
Bestnote 3+
Zweimal habe ich vergangenes Jahr Flüge nach Marseille gebucht und wieder storniert. Beide Male hätte während unseres Monats dort die Manifesta eröffnen sollen; ein Zufall, aber angesehen hätte ich mir die Ausstellungen trotzdem. Zufällig habe ich seit März 2020 nichts mehr gesehen, ich bin gezielt in Ausstellungen gegangen; habe mir einen schnellen Eindruck verschafft und mir Urteile gebildet, für die ich mir selbst höchstens eine 3+ gegeben hätte.
30 Ausstellungen die Woche, wie die New Yorker Großkritiker*innen Roberta Smith und Jerry Saltz, habe ich auch vor Corona nie geschafft (mit Ausnahme des Gallery Weekends und der Art Week). Mal war es eine, mal waren es fünf. 2020 gab es erstmals Wochen ohne. Und es war das erste Jahr, in dem ich mir keine Ausstellung zweimal angesehen habe. Vorher haben mich oft Details umgetrieben, bis ich wieder hinging, noch mal hinschaute.
„Es ist dann immer doch erstaunlich, wie viel möglich ist, ohne dass man physisch vor Ort sein muss“, hat Stefan Kalmár, der Kurator der Manifesta, im Deutschlandfunk gesagt. Ich bin für Zweckoptimismus immer zu haben, aber mir ist im Jahr der Online Viewing Rooms und Virtual Visits umgekehrt bewusst geworden, wie viel es verunmöglicht, physisch nicht anwesend zu sein. Wie viel man nicht sieht, wenn man nur noch das anschaut, was vorher schon zwingend erschien. Oder wie schnell man versucht ist, zu scrollen, wenn man ein Videowerk zu Hause auf dem Laptop abspielt. Gesehen hat man dann: nichts.
Als ich 2017 zur Documenta in Athen war, landete ich am Vorabend in einer Villa, in der sich vermögende Sammler*innen die Werke von lokalen Nachwuchskünstler*innen ansahen. Danach war mein Bild von Athen und der Kunstszene dort ein anderes. Ohne Zufallsbekanntschaften mit Kunst ist Kritik zwar möglich, aber blutarm. Christine Käppeler
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