Triage nach dem Hurrikan Katrina: Nach dem Sturm kam die Flut

Apple TV „Elend war alles, was es gab“: Die Apple-Serie „Five Days at Memorial“ erzählt von den dramatischen Ereignissen in einem Krankenhaus nach Hurrikan Katrina. Die Serie basiert auf wahren Begebenheiten – bleibt aber betont undramatisch
Ausgabe 33/2022

Nahezu gelassen verlaufen die Vorbereitungen auf die Katastrophe. Gebannt verfolgen Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger die Nachrichten im Fernsehen. Das Memorial Hospital in New Orleans rüstet sich für Hurrikan Katrina. Es gilt die höchste Warnstufe, doch man wähnt sich in Sicherheit. Ausreichend Wasser und Lebensmittel sind deponiert, man führt beruhigende Gespräche, das medizinische Gerät kann bei Stromausfall mit hauseigenen Generatoren betrieben werden. Womit niemand rechnet: dass nach dem Sturm diesmal die Flut kommt. Five Days at Memorial (auf Apple TV+) ist keine der üblichen Krankenhausserien, sondern die Schilderung einer Tragödie.

Der wahre Fall endete so: Als am 11. September 2005, 13 Tage nach dem Hurrikan, ein Boot der Gesundheitsbehörde beim inzwischen überfluteten Memorial anlegte, fand man 45 Leichen in der Kapelle. Die Frage nach der Todesursache sollte die Justiz noch lange beschäftigen: Knapp ein Jahr später wurde gegen eine Ärztin und zwei Pflegerinnen ermittelt, weil diese Patientinnen und Patienten, die sie als zu schwach für die Evakuierung erachteten, mit Morphium getötet haben sollen. Ein Gerichtsurteil blieb aus, doch viele Fragen blieben offen. Woraufhin die Wissenschaftsjournalistin Sheri Fink den Hergang im Memorial recherchierte und 2010 den Pulitzer-Preis für investigativen Journalismus erhielt.

Five Days at Memorial basiert auf Finks gleichnamigem Buch, und wohl auch deshalb beginnt jede Episode mit einem Interview mit einem verantwortlichen Krankenhausangestellten. „Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass es eine organisierte Anstrengung gab, das Ausmaß des Elends zu reduzieren“, meint die Leiterin des Ethikausschusses. „Und Elend war alles, was es gab.“

Denn als das Hochwasser stieg, die Notstromaggregate ausfielen und sich brütende Hitze über die Stadt legte, stieß man im Memorial an physische und eben auch an psychische Grenzen. Dennoch, selten erzählt ein Katastrophendrama dramatische Ereignisse dermaßen nüchtern nach.

Eingebetteter Medieninhalt

Geschrieben und inszeniert vom renommierten Autorenduo John Ridley und Carlton Cuse, verzichtet die Serie nämlich nahezu völlig auf die üblichen Einzelschicksale und rückt konzentriert das systemische Scheitern ins Zentrum. Einzig Vera Farmiga als beschuldigte Ärztin und Cherry Jones als Leiterin treten in den Vordergrund, während bei zunehmend schwindender Hoffnung jedes Rotorengeräusch eines Hubschraubers als Rettungssignal gedeutet wird. Doch der ersehnte Helikopter muss abdrehen, weil die Air Force One über die Stadt donnert – George W. Bush schaut sich eine der verheerendsten Naturkatastrophen der USA von oben an. Als schließlich doch ein Hubschrauber aufsetzt, kann er ein einziges Neugeborenes im Brutkasten mitnehmen. Zum Landeplatz auf dem Dach kommt man nämlich nur noch über eine verrostete Außentreppe.

Wem rettet man das Leben, wenn man vor die Wahl gestellt wird, lautet die entscheidende Frage. Soll man sich auch um die Patientinnen und Patienten des in der siebten Etage untergebrachten privaten Pflegeheims kümmern? Darf man den Sicherheitsdienst anweisen, Menschen notfalls mit Waffengewalt abzuwehren, die sich durch die Flut bis zum Krankenhaus retten? Und darf die in Texas ansässige Verwaltung, als man endlich mit ihr in Kontakt treten kann, darüber bestimmen, wen die Küstenwache zuerst mitnimmt? Bis man im Memorial die Idee hat, die Patientinnen und Patienten ihrem Gesundheitszustand entsprechend mit Armbändern zu kennzeichnen: Mit einem grünen Band hat man bei der Evakuierung den Vortritt. Schwarz darf sich keine großen Hoffnungen mehr machen.

Five Days at Memorial erzählt weniger von einer Verkettung tragischer Vorfälle als vom systemischen Komplettversagen, das kommunaler Inkompetenz, einer löchrigen Gesundheitsversorgung, einer jahrelang vernachlässigten Infrastruktur und damit letztlich einer Überforderung der Entscheidungsträger geschuldet war.

„Der Plan ist, dass wir keine lebenden Patienten zurücklassen“, meint die Leiterin zu einem Zeitpunkt, als es für eine allumfassende Evakuierung eigentlich bereits zu spät ist. Wenige Tage später hängt an der Türe zur Kapelle ein Zettel mit der Aufschrift „Do not enter“.

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