Arabische Welt

A-Z Basiswissen Vollverschleierte Frauen und ein machthungriger Prophet - so sehen viele im Westen die arabische Welt. Doch es gibt auch den Panarabismus oder Nahda. Ein Einführungslexikon

Arabisch

In 26 Ländern von der Westsahara bis nach Israel ist es Amtssprache, seit 1973 auch bei der UNO. Arabisch gehört damit zu den großen Weltsprachen, man schätzt, dass 320 Millionen Menschen in 57 Ländern Arabisch oder einen der arabischen Dialekte als Erst- oder Zweitsprache verwenden. Es gehört damit hinter Chinesisch, Englisch und Spanisch zu den am weitesten verbreiteten Sprachen. Auch im Deutschen hat es seine Spuren hinterlassen: Die Wörter „Zucker“, „Kaffee“, „Matratze“, „Alkohol“ oder „Sofa“ wurden aus dem Arabischen entlehnt. Jörn Kabisch

Bachelard, Gaston

Der französische Philosoph setzte in der Literaturtheorie entscheidende Impulse. In seinem Buch Psychoanalyse des Feuers (1938) setzt sich Bachelard von der Lehre Freuds ab, der die psychischen Kräfte für seine Begriffe zu mechanistisch deutet. Angelehnt an die Archetypus-Theorie C. G. Jungs, deutet Bachelard das Feuer vor allem als psychologisches Bild, das unterschiedlichste Assoziationen – und damit auch dichterischen Imaginationen – freisetzen kann. Den Gedanken entgrenzter poetischer Phantasie führt er fort in seinem bekanntesten Werk Poetik des Raums (1957). Darin entwickelt er den Gedanken einer autonomen Imagination, die einem literarischen Werk immer neue Bilder, Symbole und Metaphern beschere. Mit seiner Theorie des schöpferischen Unbewussten lieferte Bachelard die Grundlagen für spätere Erzähltheorien, allen voran den Poststrukturalismus. Allerdings begründete diese Theorie die vielfältige Deutbarkeit von Kunstwerken nicht mit der Psychologie des Dichters, sondern mit der potenziell unendlichen Interpretationsmöglichkeit der Sprache, die sich in Zeichen zu immer neuen Sinneinheiten zusammenschließe. Kersten Knipp

Bath, Adelard von

Er war Mathematiker, Philosoph, Übersetzer und Astrologe. Daneben fand der 1080 geborene Mönch Zeit, König Henry II. zu beraten und die im 11. Jahrhundert bekannte Welt zu bereisen. In seiner Heimat England gilt er als der erste Wissenschaftler. Während sich Westeuropa für die Kreuzzüge rüstete, entdeckte er sein Interesse für den Orient. Er übersetzte nicht nur Euklids Elemente, die erste Definition von Wissenschaft überhaupt, sondern auch die Werke des persischen Mathematikers Al-Chwarizmi, des Begründers der Algebra. Ihm und Adelard von Bath haben wir zu verdanken, dass wir die Null kennen. JK

Feuer und Schwert

Der Vorwurf, der Islam sei mit Feuer und Schwert verbreitet worden, stammt aus den früheren Begegnungen des Christentums mit dem Islam in der Spätantike, die von Eroberungskriegen bestimmt waren. Genauso antiquiert ist das Vorurteil, Mohammed sei ein macht- und sexhungriger Mann gewesen, der nur Prophet wurde, um sich einen schönen Harem zu halten. Außerdem fehle es dem Islam an jener Art von Vernunft, die den Fortbestand einer Religion in der heutigen Welt garantiere. In allen Fällen handelt es sich um Projektionen des Westens auf den Islam. In der uns bekannten Literatur taucht die Redewendung „Feuer und Schwert“ das erste Mal in den Erzählungen von Livius auf. Sie beschreibt die Taktik des Scipio Africanus gegen Hannibal an der nordafrikanischen Küste. „Igni ferroque“ wurde im alten Rom zu einer Redewendung, um äußerste Gewalt und Verunsicherung zu beschreiben. Die modernste Übersetzung für diese Kriegstaktik hat das US-Militär geliefert: „Shock and awe“ – 2003 bei der Invasion des Irak. JK

Fukuyama, Francis


Der US-amerikanische Politikwissenschaftler hat sich mit einer seiner großen Thesen vom Ende der Geschichte als liberaler Vordenker einen Namen gemacht, aber nicht nur Freunde. Im Rückgriff auf Hegels Dialektik führte er das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie den Fall der Berliner Mauer als Endpunkte totalitärer Systeme (und Antithese zum extremen Liberalismus) zu einer Synthese in Form der liberalen Demokratie. Totalitäre Systeme seien nach dem Ende der Geschichte keine politische Alternative mehr. In Zukunft würden sich Rechtsstaatsprinzip, freie Marktwirtschaft und Bürger-Grundrechte durchsetzen. Kritik kam vor allem von linker Seite, die Marktwirtschaft nicht als Voraussetzung von Demokratie begreift. Susanne Lang

Huntington, Samuel

Der amerikanische Politologe entwickelte Anfang der 90er Jahre die These vom „Clash of Civilizations“. Huntington (1927-2008) nahm an, dass es nach dem Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges nun zu Spannungen zwischen verschiedenen Kulturen kommen würde. Die größte Gefahr gehe von dem Konflikt zwischen muslimischer und christlicher Welt aus. Dabei konzentrierte sich Huntington vor allem auf die religiösen und kulturellen Quellen dieser Spannungen. Das trug ihm die Kritik ein, einem Essentialismus das Wort zu reden, der Identitäten und Kulturkreise für unveränderlich halte. Huntingtons gleichnamiges Buch wurde nach den Anschlägen des 11. Septembers vor allem von der konservativen Rechten in den USA (➝ Feuer und Schwert) immer wieder zur Rechtfertigung der Kriege in Afghanistan und Irak zitiert. KK

Mobiltelefon

Der Arabische Frühling ist eine Twitter- und Facebook-Revolution. Er ist aber auch eine Mobilfunk-Revolution. Denn etwa in Ägypten verfügen nur 17 Prozent der Bevölkerung über einen Internetzugang, ein Handy jedoch kann sich jeder leisten. Außerdem liefern genau diese Geräte Fotos und Videos von Demos und Protesten, die alle über Internet sehen und hören können. Bereits seine Bezeichnung verrät einiges über seine gesellschaftliche Bedeutung: Im Iran wird es übersetzt „Begleittelefon“ genannt. In vielen arabischen Ländern aber heißt es Jawwal, was „das, was durch die Gegend spaziert“ bedeutet. Bemerkenswert: Israelis und Palästinenser benutzen das gleiche Wort: Bilifon. Auf Hebräisch heißt das „Wundertelefon“. JK

Nahda

Die arabisch-muslimische Reformbewegung entstand nach Napoleons Ägyptenfeldzug 1798, die dem ➝ Osmanischen Reich erstmals die technische Entwicklung der europäischen Kolonialstaaten vor Augen führte. Teils mit Unterstützung der lokalen Machthaber setzten sich viele arabische Intellektuelle, vor allem in Ägypten und im Libanon, mit den (Hinter-)Gründen der militärischen Unterlegenheit des Osmanischen Reichs auseinander. Autoren wie der Ägypter Rifa’a al-Tahtawi oder der Libanese Butrus al-­Bustani kritisierten in diesem Zusammenhang auch die starke Traditionsverhaftung der arabischen Welt. Als gläubige Muslime setzten sie sich dafür ein, den Islam der Moderne zu öffnen. Ihre Impulse gingen aber unter, da den arabischen Ländern für eine kulturelle Modernisierung die ökonomischen wie auch bildungspolitischen Voraussetzungen fehlten. Bis heute gilt die Nahda („Wiederauferstehung“) als wichtiges Beispiel für die Öffnung des Islams in Richtung Moderne. KK

Osmanisches Reich

Es existierte über 700 Jahre von ca. 1299 bis 1932. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung umfasste es Gebiete des heutigen Saudi-Arabiens über die südliche Mittelmeerregion bis nach Marokko im Westen und Rumänien und Bulgarien im Osten. Im 19.Jahrhundert setzte vor allem unter Ali Pascha die Epoche der tanzimat ein, eine Reihe von Modernisierungsmaßnahmen, die das geschwächte Reich wieder stärken sollten. Doch in der Auseinandersetzung mit den neuen europäischen Kolonialmächten, allen voran Frankreich und Großbritannien, wie auch aufgrund der Widerstände innerhalb der besetzten Gebiete schrumpfte das Herrschaftsgebiet. 1922 löste sich das Osmanische Reich auf, an seine Stelle trat die Türkische Republik unter Kemal Atatürk. Die Auflösung bildete zugleich den Startschuss für die Kolonisierung der arabischen Welt durch die europäischen Mächte. KK

Panarabismus

Diese politische Idee will die Länder der arabischen Welt zu einer großen politischen Einheit verbinden. Das Programm des Panarabismus geht auf die Zeit der Aufstände gegen das ➝ Osmanische Reich zurück, in dem die besetzten Provinzen in der ➝ arabischen Sprache einen gemeinsamen Nenner fanden, durch den sie sich von den türkischsprachigen Osmanen unterschieden. Eine große Rolle spielte der Panarabismus vor allem im Kampf gegen die europäischen Kolonialstaaten. Besonders engagiert vertrat ihn der ägyptische Staatspräsident Gamal Abd El-Nasser, unter dem sich Ägypten mit Syrien von 1958-1961 zur „Vereinigten arabischen Republik“ verband. Auch die Syrien und den Irak lange Zeit dominierende Ba’ath Partei verschrieb sich der Idee – wie Nasser verbanden deren Vordenker sie mit sozialistischen Gedanken. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 waren die panarabischen Hoffnungen unübersehbar gescheitert. Fortan bestimmte der Islamismus das religiös-politische Klima. KK

Wahhabismus

In Saudi-Arabien ist die Lehre Ibn Abd al-Wahhabs Staatsdoktrin. Es ist die strikteste, freudloseste und repressivste Lehre des Islams überhaupt. Nur die Taliban praktizieren eine noch archaischere Auslegung. Ibn Abd Al-Wahhab lehrte im 18. Jahrhundert und forderte eine Rückbesinnung auf die wörtliche Bedeutung des Koran – eine Gegenbewegung zu einer muslimischen Gesellschaft, die in dieser Zeit einen sehr farbenfrohen, von anderen Kulturen beeinflussten Islam lebte. Seine Anhänger verweigern heute nicht nur Frauen das Autofahren, sondern verwehren den Bürgern insgesamt elementare Menschen- und Bürgerrechte. In Saudi-Arabien gibt es dafür eine Religionspolizei, das Königshaus fördert außerdem wahhabitische und andere dogmatische sunnitische Organisationen in allen Teilen der Welt.

Riad ist deshalb auch nicht ganz unschuldig an dem in Teilen Pakistans und Afghanistans herrschenden extremen Fundamentalismus. Die dortigen Paschtunen-Stämme neigten zwar schon früher dem Wahhabismus zu, die starke Re-Islamisierung in den achtziger Jahren geschah aber auch unter saudischem Einfluss. JK

Zentrum

„Wann immer ein neues Regime glaubte, dass die Hauptstadt neu gestaltet werden muss, begann es mit dem Tahrir“, hat der ägyptische Publizist Samir Raafat einmal geschrieben. Es begann mit Ismael Pascha, dem Statthalter des osmanischen Reiches in der Provinz Ägypten. Er wollte aus Kairo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein „Paris am Nil“ machen. Der zentrale Platz wurde nach dem Regenten benannt, und ein Kreisverkehr wurde angelegt, in dessen Mitte eine Statue Ismael Paschas stand.

Nach der ägyptischen Revolution 1919 bürgerte sich die Bezeichnung „Platz der Befreiung“ (Midan at-Tahrir) ein. Umbenannt wurde er nach der Revolution 1952. Bis zur Niederlage Gamal Abdel Nassers im Sechs-Tage-Krieg 1967 beherrschte ein Denkmal des Präsidenten den Platz. Heute steht dort auch der ausgebrannte Torso der NDP-Zentrale, der Mubarak-Partei. Was immer auf dem Tahrir-Platz geschah, nahm nationale Bedeutung an: die Brotunruhen Ende der Siebziger Jahre, die Proteste gegen den Irak-Krieg 2003 oder gegen das Mubarak-Regime im Februar 2011 (➝ Mobiltelefon). JK

Dieser Text ist Teil der "Freitag"-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt.

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