Arbeit am Spurenelement

LITERATUR Der Lyriker Uwe Kolbe über die DDR als Referenzpunkt seines Schreibens und eine Lyrik, die die Zeit gegen den Strich der Accelleration bürstet

FREITAG: "Alles hat für mich eigentlich mit "Menschheitsdämmerung" angefangen", haben Sie einmal gesagt.

KOLBE: Das war wie ein Schlag vor den Kopf. Diese Sprache war mir vorher in dieser Form noch nie begegnet. Dann kam etwas dazu, was im Westen vermutlich gar nicht zu haben gewesen wäre, nämlich die Korrespondenz zwischen diesen Texten und dem, was sie an Bilderwelten aufriefen. Das, was ich vor der Nase hatte, worin ich lebte. Im Grunde war ja dieses Ost-Berlin, waren also besonders die Viertel, in denen ich mich als Kind herumgetrieben habe, voll von ramponierten Gründerzeitbauten, Mietskasernen, die vor den Sanierungsprojekten der frühen Ära Honecker da noch in ihrem Nachkriegs-Charme standen. Es gab fast keinen Hinterhof, wo man nicht noch im Mauerwerk die Maschinengewehrgarben sah. Es gab zumindest in den Sechzigern noch Brauereipferde, weiße Eiswagen, die das Eis zum Kühlen in die Kneipen brachten, oder Scherenschleifer im Hof. Das waren Momente aus dem alten Vorkriegsberlin, Bilderhorizonte, die parallel auch bei den Expressionisten da waren. Hinzu kam natürlich auch das pubertäre "Ich allein gegen die Welt", und da liegt das "O Mensch"-Pathos nah. Irgendwie habe ich dann angefangen, fieberhaft zu schreiben. Eine direkte Wirkung von Literatur.

Kurz vor dem 40-jährigen Bestehen der DDR schreiben Sie: "Unterdessen bin ich zu ernst geworden. Das macht der Versuch zu atmen, ganz flach zu atmen, in der stehenden Zeit. Am Ende zwingt die Not zu einem kräftigen Zug." Können Sie heute unbeschwerter atmen?

Ich kann das pauschal mit "Ja" beantworten. Mit 1989 habe ich aufgeatmet - nicht so sehr zu dem Zeitpunkt, als ich der DDR schon den Rücken zukehren konnte, was ja 1986 oder 1987 war, sondern wirklich mit dem Mauerfall. Ganz physisch, ganz körperlich. Ich habe nicht mehr diese Art von Doppelbelastung, die zu DDR- und Mauerzeiten da war, von der ich damals gar nicht gemerkt hatte, dass sie da war. Ich habe das einmal in dem Bild vom Betonbrocken versucht zu beschreiben, der immer "mitschrieb". Das habe ich vielleicht irgendwie gewusst, aber dass die Hauptfarbe grau auch meine eigene Haut überschüttet hatte und man darunter auch schwerer atmete und ging, das habe ich irgendwie nicht gemerkt, dazu war ich auch zu jung. Gleichzeitig viel zu aufbegehrend, um daran überhaupt einen Gedanken zu verschwenden, dass ich eine Last tragen könnte. Für mich war das auch leicht, ich konnte ja Gedichte schreiben, etwas rausposaunen.

Ging dieses Aufatmen im eigenen künstlerischen Schaffen einher mit einer Art Orientierungslosigkeit, und zwar dadurch bedingt, dass eine zentrale Reibefläche Ihres Schreibens, vielleicht auch ein wichtiges Schreibmotiv und der Schreibmotor, weggefallen waren?

Ich halte das für ein großes Missverständnis. Das ist im Zusammenhang mit dem Ende der DDR häufig diskutiert worden, auch auf eine ironische Art: Ihr hattet in der DDR wenigstens richtig Schwarz und Weiß, konntet so richtig gegen jemanden sein, und das war dann bestimmt auch elementarer Bestandteil des eigenen Schreibens. Ich würde nie sagen, dass das ein Kern meiner Schreibmotivation war. Das Aufbegehren kann man sich auch, um das blöde Wort zu benutzen, als eine "existentielle" Haltung vorstellen, nicht nur als politische Haltung. Erst in dem Moment, da das zusammentrifft, klappt's. Dann ist das politisch intendierte Gedicht, das politisch-soziale Aufbegehren gleichzeitig auch ein wirklich literarisches. Wenn das nicht zusammenkommt, dann ist das Agit-Prop verkehrt herum. Und so habe ich mich nicht verstanden. Von daher gibt es in meinem Schreiben eine Kontinuität, die auch nicht sehr geknickt ist durch '89, weder nach oben noch nach unten.

Wie Sie eben schon gesagt haben, hat der Beton der Mauer bei Ihnen mitgeschrieben. War eine solche Irritation konstitutiv für Ihr Schreiben, oder wären Sie auch Schriftsteller geworden, wenn Sie auf der anderen Seite der Mauer aufgewachsen wären?

Schwere Frage. Ich glaube aber, dass es Gründe zu schreiben gab, die weit vor der Mauer, unabhängig von diesem Objekt der Begierde und des Leidens, jenseits von diesem Fetisch, auf den man fixiert war, lagen. Das können vordergründig auch politische sein, etwa wenn man einen Vater hat, der in seinem Leben dieses und jenes tat, sich in meinem Fall sehr weit, nicht nur loyal, sondern begeistert auf die DDR einließ, wohingegen ich mich davon abstieß. Gerade solche Familienkonstellationen, die eben am Schluss nicht zufällig genannt werden können, weil sie mein ganzes Leben ausmachen: also Großzuwerden in einer bestimmten Zeit und Stadt, und dann auch noch die längste Zeit der Kindheit und Jugend 200 Meter von der Mauer entfernt zu wohnen, in einer Familie, deren Hälfte in Westberlin lebte. Ich wäre unter anderen Umständen ja zum Beispiel in die gleiche Familie hineingeboren worden, und wahrscheinlich auch in eine Berliner Situation, die dann sozusagen mein poetisches Grundmaterial ausgemacht hätte. Alles andere ist nur Spekulation. Ich wünsche mir im nachhinein vielleicht auch, dass es nicht nur diese spezifischen DDR-Verhältnisse waren, die zu meinem Schreiben in dieser Form geführt haben. Ich wünsche mir Grundsätzlicheres, gleichzeitig ist es aber natürlich so konstituierend für das, was ich gemacht habe und wahrscheinlich auch weiter machen werde, dass ich daher komme, dass das meine Sprache und meinen geistigen Habitus geprägt hat, und ich zugeben muss, dass ich nur das bin und dass es die konkrete Nachkriegsgeschichte der DDR war und nicht die andere.

Hat sich der Leserbezug Ihrer Gedichte seit '89, unter den neuen Rezeptionsbedingungen Ihrer Gedichte verändert? Haben Sie zu DDR-Zeiten eine andere virtuelle Leserfigur vor Augen gehabt?

Ich glaube, dass ich das damals sehr getrennt habe. Die Leser meiner Gedichte habe ich mir nicht richtig vorgestellt, die waren mir aber auch im ganzen jugendlichen "Was kost' die Welt" - ich habe meinen ersten Gedichtband mit 23 veröffentlicht - ziemlich egal. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht, ob es da Leser gibt, ich fand es toll, ein Buch zu veröffentlichen. Dann bin ich aber genug Leuten begegnet - es gab ja Lesungen landauf, landab -, die offenbar meine Gedichte verstanden. Ich wollte eigentlich gar nicht mit denen über Gedichte sprechen, schon gar nicht über irgendwelche ästhetischen Geschichten. Das hat mich überhaupt nicht interessiert. Mich interessierte damals wirklich nur "das Politische" - so hätte ich es damals genannt -, die Provokation, Tabus anzukratzen. Ich wollte etwas bewirken und fand wahrscheinlich meine Gedichte zu schwach dafür. Das habe ich dann durch politische Reden, Kampfreden, so eine Pamphlet- oder Majakowski-Haltung gemacht. Diese Art Gespräch hat mich immer mehr interessiert, das andere Gespräch, was vielleicht zarter und aus meiner heutigen Haltung wesentlicher gewesen wäre, habe ich gar nicht geführt. Das eigentliche Gespräch wollte ich auf politischer Ebene haben.

Wenn Sie damals Ihre Leser über die "Situation", wie Sie den Zustand in der DDR genannt haben, aufklären wollten, dann verbirgt sich darin ja ein klarer didaktischer oder aufklärerischer Impetus. Der ist mittlerweile weggefallen?

Ja, das ist weg, ich habe kein aufklärerisches Anliegen mehr in dem Sinne. Ich wollte damals, dass die Leser nicht nur an Reförmchen arbeiteten. "Kippt das Ding um!" - ich wollte, dass die auf die Straße gehen und den Aufstand anfangen. Man könnte das natürlich einen Rückzug nennen oder schimpfen, für mich aber ist jetzt eine positive Zeit, in der ich mich wirklich auf das besinnen kann, worum es eigentlich geht: auf Genauigkeit im Gedicht, auf ein poetisches Spurenelement, das in ruhigeren Zeiten - die ja allerdings nur auf der kleinen, friedlichen Insel gelten, auf der wir gerade leben - zu leisten ist. Das eingreifende Gedicht war damals eine Ausnahmesituation, so etwas gibt es nur in wenigen Epochen, in wenigen Situationen.

Hat der existenzielle Furor, den Sie als Grundbedingung des Schreibens setzen, nach '89 an Intensität oder Qualität eingebüßt?

Das war immer die Unterstellung, dass sich da etwas verändert haben müsse, weil der komplexe Gegenstand DDR verschwunden ist. Die ist einerseits böse, weil sie impliziert, dass man nur geschrieben hätte, denn man in der DDR gelebt hat. Andererseits wurde da unterstellt, dass die eigene Kraft und Motivation gar nicht stark genug ist, etwas anderes als diesen Staatsfetisch zu beschreiben. Das ist eine Behauptung, die für mich sowieso nicht gilt, weil ich einen anderen Stoffbegriff habe. Unsereins, speziell aus der DDR kommend, hat natürlich seine Prägung. Ich habe die 28 Jahre Mauer fast voll abgefasst, war vier Jahre alt, als das Ding gebaut wurde, beim Ende des Unternehmens alt genug, um mein Material schon gesammelt zu haben. Natürlich ist das die Basis, auf der alles andere steht, ein starker Referenzpunkt. Dagegen komme ich nicht an. Heutige gesellschaftliche oder zwischenmenschliche Verhältnisse werde ich immer unbewusst damit vergleichen, mit Situationen, die ich kenne. Das tut jeder, nur bei mir haben diese Situationen hauptsächlich eine Farbe, nämlich grau, wenn man es in Farbqualitäten ausdrücken möchte. Das müsste man dann jedem Autor vorwerfen, den Südafrikanern etwa: Apartheid erledigt, aber was schreibt ihr nun? So etwas geschieht ganz langsam, man reagiert und reflektiert nicht kurzfristig. Ich habe erst nach dem Ende der DDR begriffen, wie langsam ich bin, wieviel Zeit ich eigentlich brauche, um ein Sediment sich ablagern zu lassen, eine Form von Erinnerung überhaupt auszubilden beziehungsweise nicht zur Verfügung zu haben, um es dann aufzubrechen und wieder rangehen zu können. Diese Überlegungen sind im Zusammenhang mit dem Wenderoman, den viele gefordert haben, gar nicht aufgetaucht, als wären wir Journalisten, die schnell zurückschlagen, wenn die Wirklichkeit geschlagen hat.

Uwe Wittstock hat in einem Portrait über Sie die expressionistischen Wurzeln Ihres Schreibens erkannt, im Unterschied dazu aber festgestellt, dass die Expressionisten weitaus optimistischer geschrieben haben. Ist diese miss trauische Haltung ein wesentliches Kennzeichen Ihres Schreibens?

Gegenüber dem status quo der "Menschheitsdämmerung" haben wir den Vorteil, dass wir nicht unbedingt nach einem Krieg leben und schreiben, gleichzeitig aber auch den Nachteil, dass wir das Ende des daraus folgenden Experimentes auch schon erlebt haben. Man kommt gar nicht umhin, das Wort "Desillusionierung" in diesem Zusammenhang zu benutzen. Wir sind kurioserweise desillusionierter als die damals. Die waren durch den Krieg fertig mit der Welt und wollten vorwärts. Der Sozialismus war etwas, was viele von denen beeindruckt hat. Es gab eine diffuse Hoffnung, die sich so kanalisierte. Wir stehen am Ende dieser Entwicklung. In der Periode, über die Uwe Wittstock schreibt, war ich ja noch mittendrin in der DDR. Damals war ich, auf die bestehenden Verhältnisse bezogen, ganz pessimistisch, auf die Veränderbarkeit bezogen war ich jedoch vollkommen optimistisch. Wie Sie das jetzt zitieren, erinnere ich mich an den damals weitverbreiteten Vorwurf, ich würde die Welt so negativ sehen. Das ist mir von wohlmeinenden Genösslein oft entgegengekommen. Die saßen dann im Publikum und fragten: Warum sehen Sie denn das alles so pessimistisch? Ich habe in diesen Kategorien gar nicht gedacht. Da habe ich es ganz mit Brecht gehalten: Die besten Verhältnisse sind die, die man ändern kann, und so habe ich auch die Welt gesehen. Mein dunkel eingefärbter Blick hat viele Komponenten, sicherlich nicht nur politische. Das hat wiederum viel mehr mit dem Schreibgrund zu tun. Warum ich nicht von der lachenden Seite her komme? Da kommen die wenigsten her. Dieser Grund sitzt viel tiefer als irgendwelche sozialen Verhältnisse. Es ist nun einmal ein dunkler Ton, von dem ich mich aber in Vineta über weite Strecken freigemacht habe, mit einem gewissen Vorsatz und einer spielerischen Haltung. Ich würde aber immer sagen, dass mein besserer Teil, worauf ich auch bauen kann, der ist, den ich an anderer Stelle mal als "Schlamm" bezeichnet habe. Der ist nach wie vor lebendig, ein biss chen isländisch lebendig.

"Die von Benn einst lakonisch festgestellte Asozialität, dieses Außerhalb der Gesellschaft Stehen des Dichters, sie besteht bis heute fort." Ist diese soziale Randposition, die Sie hier beschrieben haben, Ihrer Meinung nach Grundbedingung von Poesie?

Ich glaube, dass wir diesen Typus leider heute selten haben, jedenfalls bei denen, die in der Öffentlichkeit stehen. Das ist vielleicht ein romantisches Ideal: die Chance, etwas betrachten zu können. Das Nicht-involviert-Sein ist die Chance der Reflexion. Die Handelnden haben zu tun, die Akteure müssen agieren, und ich kann mich als Autor zurücklehnen, gerade als jemand, der nicht im Tagesgeschäft reagieren muss, der nicht den Wenderoman schreiben muss, sondern auf seinen eigenen Roman warten kann. Ich habe die Chance, mich rauszuhalten und auch mich zu verkriechen. Sich auch nicht einlassen auf die Anforderungen, das ist auch eine Facette von "Asozialität". Für mich selbst ist diese Form von außenstehen dürfen und müssen die ideale Form, souverän arbeiten zu können - ›Hieronymus im Gehäus‹, das ist die ideale Situation des Dichters, und das wird sie immer sein. Ob er dann hinterher rausgeht und eine Bergpredigt hält oder nicht, ist egal. Aus seinem Gehäus' kommt alle Kraft her. Wir leben ja mit diesem Problem der Accelleration, dass junge Autoren immer früher herausmüssen. Das ist problematisch, aber das kann ja auch in fünf Jahren wieder vorbei sein. Aber daran sieht man das Problem. Diese Autoren haben nicht die Chance, ihren Weg zu gehen. Der mag krumm und schief sein, verläuft aber immerhin unbeeinflusst von diesen massiven Forderungen - schön flüssig oder schön bunt oder fernsehserienfähig zu schreiben. Dann kann man an einem bestimmten Ende auch nichts Wesentliches mehr erwarten.

"Er war zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Nur konnte er sie nicht mehr so nennen. [...] Tabu war ihm das Schreiben von Gedicht genannten Texten, tabu das Schreiben selbst, tabu die Sprache, tabu ein denkbares Ich, das einen Text zum Gedicht erheben würde" schreiben Sie in 1994 in "Zehn poetologische Schattenspiele". Wie erklären Sie sich die im Vergleich zur Prosa marginalisierte Rolle der Lyrik?

Ich glaube, dass die Art von Gedicht, von der wir hier reden, das existenzielle oder formbewusste Gedicht, zu allen Zeiten am Rand existiert hat. Klopstock war ja auch nie populär. Wer hat denn Gedichte wahrgenommen in der Zeit von Goethe und Schiller? Das waren die Almanache für die höheren Stände, besonders für die Damenwelt. Im Salon wurden Gedichte gelesen, klein und fein. Daran hat sich im Grunde, von Ausnahmen abgesehen, nichts geändert. Na gut, Majakowski auf die Tribüne, das waren revolutionäre Zeiten. Oder so eine Figur, wie Neruda für fast ganz Lateinamerika war. Wir haben dadurch Bewegung, dass es Übergangsformen gibt, in der Welt des Pop zur Zeit etwa deutsche Gedichte. Da wird heftig gereimt, aber gar nicht mal so schlecht. Genauso bei diesen Poetry Slams, die auch voll sind. Das sind alles Übergangsformen, die auch wieder zu diesen Gedichten in den schmalen Bänden zurückführen. Vielleicht sind das Einstiegsdrogen. Aus meiner eigenen kleinen Perspektive heraus bin ich immer wieder erstaunt, wieviel Interesse es gibt, das nicht erkünstelt oder herbeigeredet worden ist. In den Siebzigern gab es eine neue Welle amerikanischer Gedichte, etwa von Frank O'Hara, die von Brinkmann hierhin vermittelt wurde. Damals gab es einen großen Aufruhr, der gegen die Gedicht-Konventionen in unserem Land ging. So etwas kann natürlich immer wieder anstehen, wenn es um Subversion in dem Sinne geht, dass etwas anwesend ist, was eher Sand ist als Öl - und im Moment ist ja nur vom Öl die Rede. Ein Gedicht ist Sand in solchen Zeiten. Ich bin da nicht pessimistisch, ich sehe, dass es etwa in der Person von Grünbein und wenigen anderen eine neue Popularität und einen neuen Ton gibt. Ich bleibe dabei, dass wir an einem Spurenelement arbeiten. Und das wirkt, weil es einerseits bremsend, bewahrend ist - eine Form, die zurückführt und Ruhe braucht -, andererseits gerade durch diese Ruhe gegen den Strich der Akzeleration geht. Es soll ja alles wie geölt gehen, dem passen wir uns alle an: Die Haare stehen nach hinten, wenn sie nicht ganz abgeschnitten sind, weil wir so schnell sind, in der Schnittfrequenz der Videoclips. Die Lyrik ist wie ein stehendes Bild, kann meditativ sein, fordert die Konzentration auf etwas, was ganz unattraktiv daherkommt.

Mitte der Neunziger haben Sie den Themenkreis Ihrer Arbeit so charakterisiert: "Womit verbringe ich die mir verbliebene, die andere Zeit? Mit der Rekonstruktion von Details. Mit der Realität des Schattens. Das Sammelgebiet DDR ist für Philatelisten und andere Blütenleser abgeschlossen. Für den Autor fängt das Sammeln erst an." Steht die Aufarbeitung Ihrer DDR-Vergangenheit, des Schweigens der DDR-Generation weiterhin im Zentrum Ihres Schaffens, oder werden Sie versuchen, sich davon zu lösen?

Vielleicht hat schon der Anfang dieser Loslösung in Vineta stattgefunden. Nur bleibt es so, dass ich kein anderes Material habe, die Referenzpunkte liegen alle in der DDR. Da ist meine Personnage, da liegen meine Orte, auch wenn ich tausend Jahre woanders leben sollte. Vineta ist nicht eine simple Metapher für den Untergang der DDR - das wäre mir viel zu blöd. Da gibt es eine sich langsam entwickelnde Privatmythologie, die mit großräumigeren Begriffen von Ost und West umgeht. Wie Hölderlin den Rhein und den Neckar als Referenzströme hatte, so habe ich die Elbe und die Oder. Das sind Landschaften, die mich ganz privat, ganz autobiographisch geprägt haben. Im Hintergrund gibt es aber auch eine vorhandene, teilweise slawische Mythologie, die mich zunehmend interessiert, gerade in ihrer Unbekanntheit und ihrer Konfrontation mit den römisch kultivierten Gebieten, in denen wir uns hier befinden. Da sind wir dann auf einmal in einer anderen Qualität als der von DDR/BRD. Das kann ich aber literarisch noch nicht belegen, das liegt in der Zukunft. Das Schöne an einem "Sammelgebiet" ist ja, dass man ja die Details - wie man damals gelebt hat, was das jeweils in einer größeren Kontinuität bedeutet - drehen und wenden kann.

Das Gespräch führten Daniel Lenz und Eric Pütz

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