Arbeit, Spaß und Popmusik

TABU-BRUCH Illusionslos schlachtet Irans Jugend die Heiligen Kühe der Revolution

Irans Konservative schäumen. "Die Jugend unseres Landes hat den Kandidaten ihre Stimmen gegeben, die ihnen grenzenlose Freiheiten versprechen." So meint zumindest Ayatollah Reza Taraqui aus Maschhad, und er meint es nicht positiv. Immerhin hat er bei diesen Wahlen seinen Sitz im Parlament verloren - und zwar an den Kandidaten der Front des "Zweiten Chordad". Der Name der Gruppierung - einer Schirmorganisation von 18 Parteien - bezieht sich auf den 23. Mai, den Tag, an dem vor gut zweieinhalb Jahren Mohammad Chatami zum Präsidenten gewählt worden war. Auch für Chatami hatte vor allem die Jugend des Landes votiert.

Weder Chatami noch die Kandidaten der Front des "Zweiten Chordad" haben der Jugend grenzenlose Freiheiten versprochen. Doch sie konnten glaubhaft machen, dass sie Reformen durchsetzen werden. Deshalb haben am Wahltag die Jugendlichen Teherans ihre Großmütter und -väter mobilisiert und sie zu den Wahlurnen geschleppt. "Ihr müsst uns helfen, wählt die Reformer. Sie sind unsere letzte Hoffung", hieß es allerorten.

Pieruz ist 24 Jahre alt. Er kennt kein anderes System als das der Islamischen Republik, die keine Mühe gescheut hat, ihn zu indoktrinieren und ihm den rechten, angeblich wirklich islamischen Weg zu weisen. Erfolgreich war sie dabei nicht, im Gegenteil. Sogar die größten Unterstützer der Konservativen, die Mostaz'afin, die Entrechteten, in deren Namen die Revolution gemacht worden war, haben sich inzwischen von den konservativen Staatsklerikern abgewandt. Im Laufe von über 20 Jahren scheint es den Konservativen nicht einmal gelungen zu sein, ihre eigenen Kinder bei der Stange zu halten - geschweige denn die Kinder jener zu gewinnen, die ihnen kritisch gegenüber standen.

Zum Beispiel Achmed. Der Sohn Mohsen Rezais, des ehemaligen Chefs der Revolutionsgarden, flüchtete noch vor dem überwältigenden Wahlsieg Mohammad Chatamis nach Amerika. In einem Interview ließ Ahmad, der sich selbst "die Stimme der iranischen Jugend" nennt, kein gutes Haar an den konservativen Geistlichen und erzählte freimütig, wie die Jugend über ihren diktatorischen Führungsstil denkt.

Pieruz hört amerikanische Musik, sieht amerikanische Videos, trägt amerikanische Kleidung. Er ist ein ganz normaler iranischer Jugendlicher. Was erwartet er von dem neuen Parlament? "Ich will völlig normale Dinge, das, was alle jungen Leute auf der ganzen Welt wollen: Arbeit und ein wenig Spaß." Seine Freundin geht etwas ins Detail: "Ich will nicht andauernd gefragt werden, ob ich mit dem Mann, mit dem ich durch den Park spaziere, auch wirklich verheiratet bin."

Diese kleinen Dinge sind es zum einen, die den Unmut der Jugendlichen erregen. Junge Leute haben kaum Gelegenheit, einander kennen zu lernen oder sich miteinander zu vergnügen. Es gibt keine Diskotheken oder Kneipen und nur wenige Cafés. Wenn einem Jungen ein Mädchen gefällt, steckt er ihr im Vorbeigehen eine Telefonnummer zu oder hält einen Zettel an die Taxischeibe. Hat er Glück, ruft sie an - das ist wohl überall so. In Iran muss er aber noch etwas mehr Glück haben. Beim ersten Treffen oder auch beim zweiten, dritten, zehnten darf ihnen kein Sittenwächter über den Weg laufen. Können sie dann nicht nachweisen, verheiratet zu sein, droht ihnen eine unangenehme Prozedur. Sie werden stundenlang darüber aufgeklärt, wie schrecklich unmoralisch ihr Verhalten aus islamischer Sicht ist. Dabei müssen sie noch nicht einmal Händchen gehalten haben.

Seit Chatami an der Macht ist, bessern sich diese Dinge sehr, sagt Leyla. "Auch das Kopftuch ist nach hinten gerutscht." Und viele "Kontrollpunkte", Orte, an denen immer penibel darauf geachtet wurde, dass Frauen ihr Kopftuch weit genug ins Gesicht ziehen und keinen Lippenstift tragen, wurden abgeschafft. Am Flughafen Mehrabad zum Beispiel. Leyla: "Eine Frau mit lackierten Fingernägeln wäre hier vor dem Amtsantritt Chatamis nicht hereingekommen." Die 22jährige Studentin verspricht sich natürlich nicht nur eine weitere Lockerung der Kleidungsvorschriften oder dass sie mit ihrem Freund im Kino Händchen halten darf. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist verheerend, besonders für die Jugendlichen. Der amerikanische Dollar stieg von 70 Rial im Jahre 1979 auf 8.500 Rial; die jährliche Inflation liegt zwischen 40 und 200 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent, die Unterbeschäftigung bei 75.

70 Prozent der iranischen Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Für diese Jugendlichen gibt es zu wenig Ausbildungsplätze und keine Arbeit. Die Arbeitslosigkeit unter den 15- bis 24jährigen beläuft sich auf das Doppelte des nationalen Durchschnitts. Auch Leyla und Pieruz glauben nicht, dass die wirtschaftliche Situation sich von einem Tag auf den anderen bessern wird, wenn das Parlament von Reformern dominiert wird. "Immerhin gibt es da noch den Wächterrat, der wird schon dafür sorgen, dass die Reformer keine allzu liberalen Gesetze verabschieden", meint Pieruz. Leyla fällt ihm ins Wort: "Und selbst dann würde sich so schnell nichts ändern."

Aus diesen Worten spricht kein übergroßer Pessimismus. Die meisten Jugendlichen scheinen inzwischen die Ansicht des Präsidenten zu teilen, dass zuerst eine gewisse Rechtssicherheit da sein oder - wie Chatami und die Reformer immer sagen - der "politische Fortschritt" kommen muss und dann erst die wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb üben sie sich in Geduld. Dabei sind ihre derzeitigen Perspektiven eher düster. Leylas Bruder Ali hat sein Studium mit dem Ingenieursgrad abgeschlossen. Inzwischen kann der 32jährige gut fünf Jahre Arbeitserfahrung vorweisen. Doch obwohl er mit knapp 300 Mark im Monat nicht schlecht verdient, konnte er nur heiraten, weil ihm seine Eltern unter die Arme gegriffen und eine Wohnung für das Brautpaar gekauft haben. Ohne diese Hilfe wäre Alis gesamtes Einkommen für die Miete einer winzigen kleinen Wohnung im Teheraner Westen draufgegangen. Junge Paare, denen die Eltern nicht die erste Wohnung finanzieren und die nicht beide arbeiten, haben in der gegenwärtigen Situation kaum die Möglichkeit, eine Familie zu gründen.

Der Soziologe und Journalist Akbar Gandschi, einer der bekanntesten Köpfe der Reformbewegung, versucht die Abwehrhaltung der Jugend gegen die Islamische Republik zu erklären. Grundlage seiner Argumentation ist eine simple Rechnung. Von den 60 Millionen Einwohnern dieses Landes sind 45 Millionen jünger als 34 Jahre. Die Zahl 34 nennt Gandschi nicht ohne Hintergedanken: "Die bis zu 21jährigen sind nach der Revolution zur Welt gekommen, und wer damals vierzehn Jahre oder jünger war, hat auch nicht für die Verfassung der Islamischen Republik Iran gestimmt." Aus der Rechnung Gandschis folgt, dass von 60 Millionen Iranern 45 Millionen nicht an der Abstimmung über das Grundgesetz teilnahmen. Es hat also nur eine Minderheit für dieses Grundgesetz gestimmt, während inzwischen eine andere Generation herangewachsen ist - mit anderen Erwartungen, anderen Idealen und Zielen.

Grundsätzlich unterscheidet das Iran wohl kaum von anderen Ländern. Für Gandschi aber ist ausschlaggebend, dass die iranische Jugend mit der Revolution, mit dem Gründungsmythos dieses Landes nichts mehr verbindet. Sie haben - anders als die Generation ihrer Väter - keine romantische Erinnerung mehr an den Kampf gegen den Schah und sehen nur, wie wenig ihnen die Revolution gebracht hat. Gandschi sagt: "Diese Generation hat mit der Vergangenheit und der Tradition gebrochen. Sie ist aus nach Neuem, und sie sagt zu allem Ja, was neu ist. Das sieht man auf allen Ebenen: im Kino, der Musik, der Kleidung, der Art zu reden und zu leben. Immer." Tatsächlich hat sich diese Generation von den Idealen ihrer Väter sehr weit entfernt - auch von den Idealen ihrer säkular denkenden Väter.

Das zeigt sich besonders krass am Beispiel Amerika: Die Kritik an den USA gehört zu den Grundpfeilern der islamischen Revolution. Sie vereinte die bürgerliche, linke und islamistische Opposition gegen den Schah, schon weil dieser mit einem von der CIA organisierten Putsch seine Macht 1953 gegen eine demokratisch gewählte Regierung konsolidiert hatte. Es war daher nicht zuletzt der Widerstand gegen die Amerikaner, der das iranische Volk 1978 auf die Straßen trieb. Und selbst nach dem Sieg der Revolution taten die USA alles, um weiter als identitätsstiftendes Feindbild zu fungieren: ihre Unterstützung Saddam Husseins, als dieser seine Truppen in Iran einmarschieren ließ, der Abschuss eines iranischen Passagierflugzeuges 1988 und die Dekorierung des Verantwortlichen, die Aufstellung eines Budgets zum Sturz der iranischen Regierung - nichts war besser geeignet, von den eigenen Misserfolgen abzulenken, als der Verweis auf die Liste amerikanischer Verfehlungen.

Bis heute ist der Anti-Amerikanismus in dem Sinne, wie er sich zuweilen in der Dritten Welt und auch bei manchen europäischen Intellektuellen findet, eine feste Größe im Denken der Reformfraktion - sogar wenn ihre Mitglieder inzwischen zaghaft für eine Aussöhnung mit den USA eintreten. Sie lehnen den amerikanischen Hegemonialanspruch und die amerikanische Massenkultur ab, allerdings wiegt für sie der ökonomische Schaden, den die weltweite Isolierung Irans mit sich bringt, schwerer als der stabilisierende Effekt eines äußeren Gegners. Nicht so die iranische Jugend: Sie ist oft auf eine Weise unkritisch gegenüber Amerika, dass es fast schon ungehörig ist. Und es ist gerade die amerikanische Massenkultur, die sie in ihren Bann zieht. Wenige Tage nach der Wahl ändert das staatliche iranische Fernsehen seinen Nachrichten-Jingle. Pieruz Kommentar: "Scheinbar haben sogar die konservativen Fernsehfritzen eingesehen, dass sie etwas verändern müssen, dass wir etwas Neues wollen."

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden