In dieser Woche haben die Warnstreiks begonnen, die so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheinen. Die IG Metall will in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche durchsetzen, die es in Westdeutschland schon gibt. Damit werde eine Gerechtigkeitslücke geschlossen, sagen die Kollegen. Aber ist das Argument nicht "scheinheilig"? Das meint Bodo Finger, der Präsident des Verbands der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie. Vor der Arbeitszeit müsse die Arbeitslosenquote auf Westniveau sinken, so fände er es gerecht. Sie liegt im Osten um zwanzig, im Westen unter zehn Prozent.
Was ist denn nur in die Kollegen gefahren? Lesen sie nicht tagtäglich in der Zeitung, dass der Weg zu mehr Arbeitsplätzen über finanzielle und rechtliche Erleichterungen für Unterne
;r Unternehmer führt? Weniger Kündigungsschutz, viel weniger Steuern, keine paritätische Beteiligung an den Sozialsystemen, das ist der Weg zum Heil. Einen Arbeitnehmer muss man rausschmeißen können, so bekommt er Arbeit, und wenn er arbeitslos wird, muss man ihm die Arbeitslosenhilfe zusammenstreichen, weil der Staat nichts mehr zuschießen kann, er hat nämlich auf Steuern verzichtet, so bleibt er Sozialstaat. Ist doch alles klar wie Kloßbrühe. Und da kommen nun welche und verlangen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, obwohl das den Unternehmern Mehrkosten aufbürden würde. Es kommt aber drauf an, ihnen Geschenke und sich selbst wehrlos zu machen.Nein, die Warnstreiks der ostdeutschen Metaller liegen goldrichtig in der Zeit, wenn auch nicht im "Trend". Die Republik wimmelt ja von Lügnern, die behaupten, sie dächten über Möglichkeiten zur Senkung der Massenarbeitslosigkeit nach, während sie in Wahrheit nur eine Umverteilung von arm nach reich organisieren, einen Mehrwertraub. Da ist es nützlich, wenn die Armen ebenso laut an die wahren Wege zu mehr Beschäftigung erinnern. Arbeitszeitverkürzung ist ein solcher Weg. Weil die Arbeit auf mehr Schultern verteilt werden müsste, könnten durch die 35-Stunden-Woche 15.000 neue Stellen entstehen, rechnet die IG Metall vor. Hier halten nicht Arbeitsplatzbesitzer Privilegien aufrecht und wollen sie noch erweitern, hier wird gerade den Arbeitslosen geholfen. Aber die Lügner geben den Ton an, und sie werden immer frecher. Im Spiegel dieser Woche kann man lesen, es sei ein "Teufelskreis", dass in Westdeutschland die Arbeitsproduktivität hoch bleibe und die Gewerkschaft entsprechend hohe Löhne fordern könne. Genau zum selben Zeitpunkt hört man, ostdeutsche Arbeitgeber wollten sich auf die 35-Stunden-Woche erst dann einlassen, wenn neben der Arbeitslosenquote auch die Arbeitsproduktivität Westniveau erreicht habe. Also was nun - man argumentiert mit hoher Produktivität, wie man Eseln, damit sie laufen, die Möhre vor den Kopf bindet, ist ein solches Ziel aber erreicht, werden die Esel auch wieder nicht belohnt. Im übrigen spekuliert das Argument auf eine uninformierte Öffentlichkeit, denn wenn man nicht Ostdeutschland einschließlich seiner Bauindustrie mit Westdeutschland vergleicht, sondern nur die Metallindustrie beider Regionen, ist der Produktivitätsunterschied nicht groß.Es geht eben gar nicht um Argumente. Der Arbeitskampf der ostdeutschen Metaller passt auch deshalb in die Zeit, weil auf deren Agenda die Zerschlagung der Gewerkschaften steht. Seit auch die SPD von Neoliberalen geführt wird, mehren sich dafür die Zeichen. Das Bundesarbeitsministerium hat man ihnen schon genommen. Sie regieren nicht mehr mit. Der Kanzler führt die Gewerkschaften vor, indem er diverse Wahlversprechen bricht. Wenn sie sich das gefallen ließen, hätten sie schon so gut wie verloren. Sie müssen gerade jetzt militant werden. Wenn man ihnen etwas vorwerfen kann, dann gewiss nicht die Militanz. Eher den Mangel an hegemoniefähiger Öffentlichkeitsarbeit. So gelingt es ihnen nicht, Arbeitszeitverkürzung als Weg zu mehr Arbeitsplätzen in den Vordergrund ihrer Kampagne zu rücken; stattdessen dominiert die Forderung der Ost-West-Angleichung. Die IG Metall wagt es nicht, eine Arbeitszeitverkürzung noch unter 35 Stunden auch für den Westen zu propagieren.Das Grundsätzliche spricht doch für sie. "Der Kampf um die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wütete um so heftiger", schreibt Karl Marx, "je mehr er, abgesehen von aufgeschreckter Habsucht, in der Tat die große Streitfrage ist, die Streitfrage zwischen der blinden Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche die politische Ökonomie der Mittelklasse bildet, und der Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht, welche die politische Ökonomie der Arbeiterklasse bildet." Und Oskar Negt ergänzt - in seinem Hauptwerk Arbeit und menschliche Würde -: "Zumindest bedeutete der mehrwöchige Streik, mit dem 1984 für die Metall- und die Druckindustrie die 38,5-Stunden-Woche durchgesetzt wurde, den Beginn einer Epoche, in der jene Zeit" außerhalb der Arbeit, "die ich als Emanzipations- und Orientierungszeit bezeichnen möchte, größer ist als die Zeit, die der Mensch stückweise zu verkaufen genötigt ist, um genügend Mittel zum Leben zu erwerben."Warum orientieren sich die Metaller nicht an dem Reformmodell, das unter Jospin in Frankreich begonnen wurde? Dort nahm man den Unternehmer-Wunsch beim Wort, Arbeiter müssten zu mehr "Flexibilität" in der Arbeitsgestaltung bereit sein. Wird gemacht, war die Antwort, im Tausch gegen weniger Arbeitszeit. Dieser Tausch wurde unter Regierungsaufsicht Betrieb für Betrieb je nach den örtlichen Sonderbedingungen ausgehandelt. Ebenso könnte die deutsche Gewerkschaft ihr flexibles Eingehen auf konkrete Betriebsverhältnisse demonstrieren. Sie gehen ja faktisch auf sie ein. Auch jetzt wieder wurde betont, "kränkelnden Betrieben" wolle man eine sofortige Arbeitszeitverkürzung nicht zumuten. Aber es wird kaum bekannt. Schreckt die Gewerkschaft etwa vor einer dezidierten Politik des Bündnisses mit dem Mittelstand zurück? Das wäre fatal. Es ist nämlich wahr, dass nicht die Konzerne, sondern, wenn überhaupt jemand, die Mittelständler neue Arbeitsplätze schaffen. In den Arbeitgeberverbänden setzen die Großkonzernvertreter ihre Interessen durch, aber viele Mittelständler sehen nur in der Gewerkschaft, mit der sie sich doch vielleicht einigen könnten, ihren Feind. Gibt es nicht wenigstens eine Handvoll politisch fortschrittlicher Mittelständler in dieser Republik, mit denen die Gewerkschaft das Bündnis zum wechselseitigen Vorteil der subalternen Klassen - denn auch die Mittelschicht ist eine solche - exemplarisch vorführen kann?
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