Arbeitende Rentner sind am gefährdetsten

Corona In Deutschland jobben über eine Million ältere Menschen nebenbei. Sie können sich eine freiwillige Quarantäne oft nicht leisten
Ausgabe 11/2020
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität
Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Einen ironisch-distanzierten Text über Corona wollte ich schreiben; mit einem Augenzwinkern auf die Hamsterkäufe und die panische Angst vor dem Virus eingehen. Alles Panikmache, dachte ich, und beruhigte mich damit, dass jährlich ja auch Millionen Menschen an der Influenza erkranken. Doch die Entwicklung der vergangenen Tage deutet darauf hin, dass wir es mit einer Atemwegserkrankung zu tun haben, die viel ansteckender und gefährlicher ist, die Millionen, vielleicht sogar Milliarden Menschen betreffen könnte.

Je schneller sich das Virus ausbreitet, desto mehr Menschen werden daran sterben. Der Virologe Christian Drosten von der Charité Berlin geht davon aus, dass bereits zum Herbst die deutsche Gesellschaft „durchseucht“ sein wird. Selbst bei einer sehr niedrig angelegten Sterblichkeitsrate von 0,5 Prozent werden allein in Deutschland Hunderttausende die Corona-Erkrankung nicht überleben.

Besonders gefährdet sind Menschen mit Vorerkrankungen und Rentner*innen. Bei älteren Menschen ist die Sterblichkeitsrate um ein Vielfaches größer als bei Menschen unter 50 Jahre. Geht man von rund 17,5 Millionen Menschen in Deutschland aus, die älter sind als 65 Jahre, muss niemand Mathe studiert haben, um festzustellen, dass die 28.000 Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern vielleicht nicht reichen könnten. Die Privatisierungen, Einsparungen und Rationalisierungen im Gesundheitssystem bieten zudem nicht gerade Anlass, entspannt auf die Ausbreitungszahlen zu blicken. Der Kollaps des Gesundheitssystems muss bei allen Notfallplänen mit einkalkuliert werden.

Alte und Arme

Corona erschien zunächst als Seuche irgendwelcher Touristen und Wirtschaftsvertreterinnen, die zwischen China und Deutschland, Japan und Kalifornien hin und her fliegen. Mit flächendeckender Ausbreitung werden aber vor allem ärmere Menschen zu kämpfen haben. Das trifft grundsätzlich auf Menschen in Staaten mit ohnehin schlechter Gesundheitsversorgung zu; aber auch in Deutschland, wo die Gesundheitsversorgung trotz Privatisierungswahn noch vergleichsweise passabel ist, wird Corona nicht für alle ältere Menschen gleichermaßen gefährlich sein.

Die, die zu Hause bleiben können, erwarten, dass jemand ihre Pakete zustellt, die öffentlichen Orte reinigt, Prospekte und Zeitungen im Briefkasten landen und jemand die Regale in den Supermärkten wieder einräumt. Mehr als eine Million Rentner*innen in Deutschland jobben nebenbei, auch weil ihre Rente nicht ausreicht. Sie können sich freiwillige Quarantäne schlicht nicht leisten. Nach Lage der Dinge zählen arme Alte zu den gefährdetsten Gruppen. Da hilft kein Augenzwinkern. Die Grenzen zwischen ironischer Distanz und blankem Zynismus waren selten so fließend.

Sebastian Friedrich ist Journalist und führt im Freitag sein 2016 als Buch erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft fort, welches veranschaulicht, wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt

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