Arbeitsexil im schwarzen Land

EU intim Auch an Geschichten von Einwanderern herrscht in der europäischen Hauptstadt kein Mangel. Erzählen sie von Italienern, ist ein tragisches Ende nicht auszuschließen

„Souvenir du Pays noir“ steht auf der alten Ansichtskarte, „Souvenir aus dem schwarzen Land“. Die Fotos zeigen eine russige Landschaft mit Gruben, Schloten, Kähnen, Waggons, Baracken. Schwarz verdreckte Männergesichter, die stumm von der „Schlacht um die Kohle“ erzählen, als Belgien seine vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Wirtschaft allein mit dem Kraftstoff Kohle hochfahren konnte. Dazwischen ein Bild leichtfüßiger Italianitá: Männer in bemerkenswert eleganten Anzügen spielen Boccia. Im Vordergrund eine bauchige Korbflasche Wein, im Hintergrund ein spitzer Berg aus dunkelgrauem Geröll. Von der Kohleabraum-Halde, im Französischen „terril“ genannt, stehen verloren einzelne Bäumchen ab.

Johannisbrot und Disteln

Wenn ich mich Brüssels Italienern zuwende, müssen es nicht die 2.600 italienischen Kommissionsbeamten sein. Das italienische Element wurzelt in Belgien tiefer, im französischsprachigen Teil des Landes stammen etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus italienischen Familien. 50.000 kamen als Bergarbeiter ins Land, als Folge des belgisch-italienischen Staatsvertrags von 1946. Sie kamen damals in Sonderzügen, jede Woche tausend.
Die belgische Geheimpolizei strich Vorbestrafte und Kommunisten von der Liste. In Belgien angekommen, wurden die Angeworbenen ohne Einschulung in die Grube geschickt. Am Tag darauf weigerten sich einige hinunter zu steigen. Sie wurden von der Polizei abgeführt, im Brüsseler „petit chateaux“ festgehalten und abgeschoben. „Alle werden wie die Ratten sterben, denn es gibt keine Notausgänge“, sagte damals ein Vater zu seinem Kind. Am 8. August 1956 war es soweit – am 8. August 1956 starben sie wie die Ratten, als es zu einem Grubenunglück kam.

Viele Italiener verließen die niedergehenden wallonischen Bergbaustädte später und zogen nach Brüssel. So auch der eine, den ich kennenlernte. Filippo, Sizilianer, Jahrgang 1938, er wirkte bereits wie ein bürgerlicher Belgier. Er ging noch in den Laekener Altherrenklub L´Isola, hörte aber schon die französische Messe. „In Sizilien litten wir Hunger“, erzählte er. Er habe sich oft von Johannisbrot und Disteln ernährt. Dann hing ein rosa Anwerbeplakat der belgischen Regierung am Rathaus von Enna. „Die Belgier versprachen uns ein kleines Haus. Das war dann eine Baracke, in der vorher deutsche Kriegsgefangene gehalten wurden.“

Saal der Gehängten

Nein, auch die Belgier waren nicht gut zu ihren Gastarbeitern: „Wenn's dir nicht passt, Maccaroni, dann geh zurück!“ Filippo war 14, als er erstmals 800 Meter abstieg, anfangs mit seinem Vater. Er hatte Angst; ein italienischer Bekannter war im Berg gestorben, vom Grundwasser weggespült. Filippo entfloh der Minenarbeit mit 19, erzählte aber mit Stolz: „Ich war stark und konnte die Arbeit von Erwachsenen machen. Ich bekam 20 Francs mehr, weil ich vor dem Morgengrauen allein hinunterfuhr, für Kontrollarbeiten.“

So fuhr ich nach Charleroi, in den Stadtteil Marcinelle, in das ehemals schwarze Land. 1955 war die Schlacht um die Kohle mit einem Förderungsrekord siegreich gewesen, am 8. August des Folgejahres brach im Bergwerk Bois du Cazier ein Feuer aus. Erst am 23. August drangen die Retter auf 1.035 Meter Tiefe vor. Unten war es still. Der eine, der oben die Nachricht überbrachte, sagte nur zwei Worte: „Tutti cadaveri“. 136 der 262 Toten waren Italiener.
Der Bois du Cazier ist heute ein Museum. Man sieht eine halbrunde rotrostige Metallröhre des Moduls „Nyssen Hut“, in dem viele Italiener am Anfang lebten. Man sieht den Umkleideraum, wegen der an Haken hochgezogenen Klamotten „Saal der Gehängten“ genannt. Man liest, dass wegen Marcinelle schärfere Sicherheitsbestimmungen erlassen wurden, von der Montanunion, der Keimzelle der EU. In den Jahren vor Marcinelle starben 2.000 Männer unter Tage, in den Jahren danach noch 20.

Auch wenn die Boccia-Spieler fehlten, konnte ich kaum den Blick von dem spitzen grauen Terril abwenden. Als Junge habe er auf dem Terril zuhause gespielt, erzählte Filippo, zusammen mit polnischen Jungen. Kirschbäume standen auf dem Terril. Filippos Kindheit wünsche ich keinem Kind. Aber dass er auf einem Berg spielte, den sein Papa mit wachsen ließ – darum beneide ich ihn ein bisschen.

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