Architektonischer Ausblick auf Frühling und Sommer

Platz an der Sonne Der Balkon "geht" nach Osten, Süden, Westen oder Norden "raus". Nicht so beliebt sind Balkons, die nach Norden rausgehen. Beliebter sind Balkons ...

Der Balkon "geht" nach Osten, Süden, Westen oder Norden "raus". Nicht so beliebt sind Balkons, die nach Norden rausgehen. Beliebter sind Balkons Richtung Süden oder Stoßrichtung Osten, dort "geht" die Sonne "auf".

Der Nordbalkon bietet nur Schatten. Das macht ihn so unbeliebt.

Was man am Südbalkon gemeinhin schätzt, ist, daß er viel Sonne "abkriegt". Auch spielt wohl die Assoziation ihre Rolle. "Süden" wirkt wie "Land, wo die Zitronen blühen", Italien, Libyen, Goethe im besonderen, das Fernweh und das Wegreisen machen sich da zusätzlich bemerkbar. Es ist ein ausgewachsener und waschechter psychosomatisch-physioenergetischer Komplex mit dem Balkon.

Wer gar keinen Balkon hat, ist noch ärmer dran.

Menschen mit Südbalkon sind weniger schwermütige Existenzen, man spricht bedenkenlos von ihrem sonnigen Gemüt, sie halten sich gern im Freien in luftiger Höhe auf, bevorzugt an langen, lauen Sommerabenden. Während der Nordbalkonler vor dem Fernseher sitzt.

Man hört Stimmen von oben drüber und von unten drunter, man hört die Flaschen Bier klappern, sobald das Tagwerk in trockenen Tüchern ist, man vernimmt Gemurmel, man glaubt, der Bocksbeutel kreise, ganz bestimmt.

Dann steigt Rauch von unten auf, oben zieht er ab, es sei denn, der Wind steht ungünstig und fällt zwischen den sechsgeschossigen Jahrhundertwendehäusern plumpsackfidel in die Hofschlucht hinunter, um sich an einer der Wände wieder aufzubäumen, an dieser entlangzustreichen und im oberen oder im über unserem Balkon gelegenen Stockwerk eine Kehrtwende zu vollziehen, sich einzudrehen nach der Mauer hin, den Holzkohleschnitzeldampf einfangend, greifend, mitreißend, und wieder nach unten zu rauschen, nun ölige Luftwirbel im Gepäck, die er bei uns auf dem Balkon, der von der Abendsonne in mildes Licht getaucht ist, ablädt, deponiert.

Man kann dagegen wenig tun.

Der Balkon tritt kulturgeschichtlich im 19. Jahrhundert erstmals oder mutmaßlich erstmals massenhaft auf und stellt einen in die Stadt gestellten Schreber- und Erholungsgarten dar, den man in die Luft hängt und mit einem festen Boden aus Stein und Beton, einer stofflich speziellen Auflage (Estrich), einem zur Sicherheit aus Stahl gefertigten Gitter und Blumentöpfen versieht. Manchmal misst der Balkon nur zwei Quadratmeter. Dann nutzt man ihn als Raucherecke, als Stehkombüse oder als Aussichtsplattform, um in den Hof zu schauen, wo grauer Staub liegt oder Platten verlegt wurden und ein Baum mühsam emporwächst und Wäsche hängt, die auf dem Balkon hängen könnte.

Die Aussicht ist wichtig, auch die atmosphärisch-akustische Dimension dieses schon nicht mehr ganz privaten, sondern im Graubereich zwischen Haus, Boden, Lüften und Agora lancierten Fleckens. Daher empfiehlt sich ein Balkon ab der dritten Etage, ganz unten hat er wenig Sinn, es schauen zu viele spielende Kinder oder Passanten herein.

Grob gesagt dient der Balkon für alles, schon sind geschlechtsverkehrsartige Verstrickungen von Frau und Mann gesehen worden, Würfelspiele und Skatrunden, selbst unter Beengnis. Die entsprechenden Akteure lehnen sich entweder an die zur Küche oder zum Wohnzimmer gelegene weiß verputzte Wand, hängen sich lässig halb übers Geländer oder stützen sich auf dem Ellbogen auf und beobachten alles.

An den Seiten des Balkons wächst Efeu, der sich an einer Dachstützkonstruktion oder Pergola entlanghangelt und über die Jahre sprießt, dass er zuweilen gestutzt werden muss. In solchen botanischen Elementen nisten Spottdrosseln, Amseln und der gemeine Haussperling, nicht die Meise, die benötigt höhlenartige Verschläge in Baumstämmen und ist daher für den Balkon nicht geeignet, es sei denn, sie steuert die winters applizierten Futterknollen an, an denen zumal die Kohlmeise sehr hartnäckig und ausgiebig hängt und baumelt und sich gütlich hält.

Dann steht man hinter der Scheibe, bewegt sich nicht, schaut und freut sich über die Lebendigkeit der kleinen Kreatur.

Wenn der Balkon saniert werden muss, sieht es schlecht aus für die Ornithologie. Dann dominieren blecherne Eimer mit grauer Dispersionsfarbe, Schmirgelpapier, Rostschutzmittel, Pinsel und herumliegende Zeitungsseiten. Es ist aber an einem Tag zu packen, plus einen Tag Trocknen, wenn es nicht regnet.

Peitscht der Regen aus Nordost oder Südwest gegen die Glastür, sieht man, wie unbenutzbar der Balkon ist. Dann zieht man sich zurück und bleibt wieder unter sich.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden