Arithmetik der Auszeichnung

66. Berlinale Im Wettbewerb bestimmten die News-Themen des Weltverbesserungskinos den Ton. Manche Preisträger standen von Anfang an fest
Ausgabe 08/2016
Gianfranco Rosi und sein Goldbär für „Fuocoammare“
Gianfranco Rosi und sein Goldbär für „Fuocoammare“

Bei einem politischen Filmfestival wie der Berlinale dürfen Dankesreden nicht nur persönliche Botschaften enthalten, sondern müssen der Bekräftigung des gezeigten Engagements dienen. Schließlich verstehen sich die vergebenen Preise immer auch als Ermutigung zum Weitermachen. Gleich zu Beginn der diesjährigen Bären-Verleihung am vergangenen Sonnabend fiel ein diesbezüglich erstaunlicher Satz, der den Ton des ganzen Abends vorgab. Er stammte von Dora Bouchoucha Fourati, der Produzentin des in der Kategorie Bester Erstlingsfilm ausgezeichneten tunesischen Beitrags Hedi: „Danke, dass Sie die Menschlichkeit wiederhergestellt haben!“

Es war nicht ganz klar, an wen sich dieses Lob richtete. Sollte es auf die deutsche Willkommenskultur abheben? Nach den Ereignissen von Bautzen und Clausnitz ist fraglich, ob sich die hiesige Zivilgesellschaft noch uneingeschränkt für solche Ehrenbezeigungen empfiehlt. Oder durfte sich das Festival selbst gemeint fühlen, das damit seine Zuständigkeiten heroisch erweitert sah? Seinem Leiter Dieter Kosslick wird die umarmende Unschärfe dieser Worte gefallen haben, besiegelten sie doch den Eindruck, die vom Filmfest ausgesandten Botschaften seien verstanden worden.

Auf der 66. Berlinale triumphierte ein Kino der Nachrichtenaktualität, das sich an den Realitäten einer verletzbaren Welt messen lassen muss. In Gianfranco Rosis Siegerfilm Fuocoammare fand diese Tendenz ihre mustergültige Verkörperung. Die letzten Aufnahmen des Dokumentarfilms entstanden im Januar, seine Montage war erst eine Woche vor der Premiere abgeschlossen. Er hält eine heikle Balance zwischen dem beschaulichen Alltag der Bewohner der italienischen Insel Lampedusa und der unfasslichen Härte des Schicksals der Flüchtlinge, die dort anlanden. Diese Sphären begegnen sich nur in der erzählerischen Instanz des heimischen Arztes; Rosis Montage zieht jedoch diskrete Analogien zwischen ihnen.

Belastbare Metaphern

Der Wettbewerb betrieb Symbolpolitik. Die persönliche Emanzipationsgeschichte von Hedi spiegelt den Aufbruch Tunesiens in eine ungewisse Zukunft wider. Das Festival war reich an bisweilen auch filmisch belastbaren Metaphern; dem trägen linken Auge des aufgeweckten Fischersohns Samuele in Fuocoammare; dem Volleyballspiel, das in Rafi Pitts’ Film Soy Nero den amerikanisch-mexikanischen Grenzzaun überwindet. Blass blieb hingegen der Aufbruch in eine freiere Gesellschaft, den Thomas Vinterberg in Die Kommune einer eminent konservativen Dramaturgie unterwirft.

Das Diktat eines Weltverbesserungskinos, das seinen Elan aus der Wahl elektrisierender Themen schöpft und ästhetisch allenfalls die Solidarität mit seinen Figuren fordert, degradierte stilistisch rigide Arbeiten wie den portugiesischen Beitrag Cartas da Guerra von Regisseur Ivo M. Ferreira zu bloßen Platzhaltern. Künstlerischer Eigensinn blieb allerdings nicht völlig chancenlos. Man mag bedauern, dass Quand on a 17 ans, in dem André Téchiné zu früherer Form auflief, leer ausging (ein Darstellerpreis hätte drin sein können). Zweifellos jedoch steht L’avenir, für den seine Kollegin Mia Hansen-Løve den Regiepreis erhielt, für ein zeitgemäßeres Kino.

Darüber hinaus wirkt das Prinzip des stets anbaufähigen Warenhauses, nach dem Kosslick das gesamte Festival ausrichtet, zusehends in den Wettbewerb hinein. Mit Ausnahme der Fallada-Verfilmung Alone in Berlin hatte jeder Beitrag seine Fürsprecher. Kohärenz ist in diesem Breitenspektrum unmöglich. Was hätten, um nur ein Muster des programmatischen Zufallsgenerators zu nennen, die Haken schlagende Flüchtlingsgeschichte Soy Nero und die New Yorker Literaten-Bromance Genius einander zu sagen, in welcher Sprache könnten sie sich verständigen?

Würde der Wettbewerb eine tatsächlich spannungsvolle Differenzierung des Weltkinos reflektieren, wäre die Preisverleihung nicht derart vorhersehbar verlaufen. Mitunter lief sie auf eine Frage bloßer Arithmetik hinaus: dass der Acht-Stunden-Film A Lullaby to the Sorrowful Mystery des philippinischen Filmemachers Lav Diaz für die neuen Wege, die er der Filmkunst eröffnet, ausgezeichnet werden würde, stand von Anfang an fest – ganz ungeachtet seiner epischen Ambitionen und lyrischen Integrität.

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