Am kommenden Dienstag ist es so weit: Am 5. November wird das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die „Hartz-IV“-Sanktionen und deren Verfassungsmäßigkeit verkünden.
Die „Hartz IV“-Reform trat vor 15 Jahren in Kraft. Anstelle der Arbeitslosenhilfe wurde eine neue Sozialleistung geschaffen, die im Gesetz „Arbeitslosengeld II“ – kurz ALG II – heißt, aber bald nur noch „Hartz IV“ genannt wurde. In der öffentlichen Diskussion ist „Hartz IV“ untrennbar mit dem Sanktionsregime verbunden, das mit der Reform geschaffen wurde. Wer nicht pariert, kriegt keine Stütze – darum geht es im Kern. Seit der Verschärfung der Sanktionsregeln zum Jahresanfang 2007 können die Jobcenter
Jobcenter Leistungsempfängern nahezu beliebige Auflagen machen. Wenn die nicht erfüllt werden, können die Leistungen vollständig gestrichen werden – sogar dann, wenn das zum Verlust der Wohnung führt. Der Anspruch auf eine existenzsichernde Geldleistung beruht aber unmittelbar auf der Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz. Eine Unterscheidung zwischen einer Art „Kernanspruch“, der das nackte Überleben sichert, und einem erweiterten Anspruch, der soziale Teilhabe ermöglicht, lässt das Bundesverfassungsgericht nicht zu. Die Garantie der Menschenwürde „gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie“, führt das höchste deutsche Gericht im „Hartz IV“-Urteil vom Februar 2010 aus. Die Sanktionsregeln sind damit nicht zu vereinbaren. Dennoch ist kaum zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht sie kurzerhand für nichtig erklären wird.Zu tief sitzt das Misstrauen gegen Menschen, die in Armut leben. Das alte Gespenst des „Arbeitsscheuen“, der böswillig in Armut lebt und der Gesellschaft schaden will, spukt bis heute in den Köpfen. Noch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961 – ansonsten in vieler Hinsicht ein sehr fortschrittliches Gesetz – enthielt eine Rechtsgrundlage zum Freiheitsentzug wegen „Arbeitsscheu“ in „Arbeitshäusern“. Das Bundesverfassungsgericht kassierte 1967 zwar den ebenfalls im BSHG enthaltenen Paragrafen, nach dem weggeschlossen werden sollte, wer als „besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos“ galt. Doch „Arbeitsscheue“, so das Bundesverfassungsgericht 1970, dürften von Verfassung wegen eingesperrt werden. Denn sie gefährdeten die Allgemeinheit. 1974 strich die sozialliberale Koalition dann die Arbeitshäuser und mit ihnen den Begriff der „Arbeitsscheu“ aus dem Gesetz. Mit der „Hartz IV“-Reform erlebte der Spuk eine Renaissance. Im August 2005 verglich der Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) Hilfebedürftige mit Parasiten. Franz Müntefering, zweimal SPD-Vorsitzender, verstieg sich gar zu dem Satz „Nur wer arbeitet, soll auch essen“ und zitierte damit die vermutlich einzige Passage der Bibel, die sich auch in der Stalin-Verfassung der Sowjetunion von 1937 wiederfindet. Die Sanktionsvorschriften übersetzten das in geltendes Recht.Individuum in NotSanktionsvorschriften und Armenbashing wollen glauben machen, arm sei nur, wer nicht arbeiten wolle. Armut wird so als individuelles Problem, schlimmer noch, als individuelles Versagen dargestellt. Die gesellschaftliche Verantwortung für Armut wird negiert. Doch Armut ist kein individuelles, sondern ein komplexes soziales Phänomen. Sie beschränkt sich nicht darauf, dass eine Person über relativ wenig Geld verfügt. Armut in Deutschland ist im Kern ein gesellschaftlicher Disqualifizierungsprozess. „Gesellschaftlich“ heißt: Sie ist kein individuelles Problem, sondern eine Situation, die sozial erzeugt ist. „Disqualifizierungsprozess“ heißt: Sie bewirkt eine umfassende Disqualifizierung der Betroffenen im doppelten Sinne des Wortes: Armut entzieht den Betroffenen Kompetenzen und schließt sie aus sozialen Zusammenhängen aus. Daher spricht der Soziologe Serge Paugam in seinem Buch Die elementaren Formen der Armut von „disqualifizierender Armut“. Wer von disqualifizierender Armut betroffen ist, erfährt tagtäglich „eine ganze Reihe von kleinen und großen Demütigungen“.Placeholder infobox-1All die Demütigungen, denen Menschen in Armut ausgesetzt sind, sind negative Zuschreibungen, die einem Anschlag auf die Identität gleichkommen. Die Frage „Wer bin ich?“ beantwortet man nicht allein. Die anderen reden dabei mit. Wenn negative Zuschreibungen überhandnehmen, gerät das Individuum in Not. Es muss mit den Mitteln, über die es nun einmal verfügt, Strategien der Notwehr entwickeln, um den Anschlag auf seine Identität, den die Erfahrung disqualifizierender Armut bedeutet, zu überleben. Diese Strategien können als Unterwerfung oder als Totalverweigerung, als vorauseilendes Zugeständnis oder als Verhandlungsangebot in Erscheinung treten. In jedem Fall sind sie unbedingt notwendig. Von disqualifizierender Armut Betroffene befinden sich in einem verzweifelten Kampf gegen den Anschlag auf ihre Identität. In berührender Weise kommt das in dem Satz einer Empfängerin von Arbeitslosengeld II zum Ausdruck, die im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte: „Ich habe dem Staat gekündigt.“Die Strategien der Betroffenen müssen mit den Strategien der gesellschaftlichen Agenturen zur Armutsbekämpfung, den Jobcentern, nicht harmonieren. Die Bemühungen um Reintegration (in den Arbeitsmarkt, in soziale Zusammenhänge, in jedwede Form von gesellschaftlicher Verantwortung) treffen auf ein erfahrungsgesättigtes Misstrauen, das sich in der Abwehr von Bemühungen äußern kann, die von ihren Akteuren als Hilfsangebot intendiert sind. Deshalb ist es keine Überraschung, dass das Verhältnis der Jobcenter zu ihren „Kunden“ oft konflikthaft ist. Sanktionen sind der Versuch, diese Konflikte durch die Unterwerfung der unterlegenen Seite zu lösen. Doch die Strategie der Unterwerfung ist irrational. Gesellschaftliche Integration kann nur gemeinsam mit denjenigen gelingen, die integriert werden sollen. Die Jobcenter müssen ihre Klienten von dem gemeinsamen Projekt der Integration in den Arbeitsmarkt überzeugen. Es ist unmöglich, Menschen durch Unterwerfung zu überzeugen. Es ist unmöglich, Menschen langfristig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ohne sie als Subjekte ihrer Biografien anzuerkennen. Paugam formuliert es so: Der Umgang der Gesellschaft mit Armut zeichnet sich durch einen Wohlfahrtsstaat aus, „der zwar vielen Menschen ein hohes Niveau an Sicherheit gewährleistet, dessen Interventionsformen gegenüber benachteiligten Bevölkerungsgruppen sich jedoch zum großen Teil als unangemessen erweisen“.Am Anfang angemessener Interventionen muss Anerkennung stehen. Anerkennung ist die grundlegende Bedingung dafür, dass Integration gelingen kann. Anerkennung beginnt damit, die grundlegenden Bedürfnisse des anderen anzuerkennen. Das allein wird nicht reichen, aber bereits das wird durch die Sanktionsvorschriften vereitelt. Die Verweigerung der Anerkennung der existenziellen Bedürfnisse kommt einer Kriegserklärung gleich, die dem gemeinsamen Prozess der Integration die Grundlage entzieht. Das Mindestmaß der anzuerkennenden grundlegenden Bedürfnisse lässt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes leicht bestimmen. Es ist das soziokulturelle Existenzminimum, das durch den Grundsicherungsbedarf beziffert wird. Anerkennung heißt nicht, dass der Sachbearbeiter zartfühlend Verständnis für das Bedürfnis nach Existenzsicherung zeigt. Die Anerkennung des basalen Bedürfnisses nach Existenzsicherung taugt nur als handfeste Anerkennung, die das ökonomische Minimum zuverlässig zur Verfügung stellt.Augenhöhe? Anerkennung!In der mündlichen Verhandlung vom Januar, die das Bundesverfassungsgericht im Sanktionsverfahren durchgeführt hat, war viel von „Augenhöhe“ die Rede. Die Bundesagentur für Arbeit legt großen Wert darauf, dass man mit den Kunden „auf Augenhöhe“ umgehe. Mit Anerkennung hat das nichts zu tun. Die Rede von der Augenhöhe will glauben machen, die starke Machtasymmetrie zwischen Jobcentern und Leistungsempfängern lasse sich mit etwas gutem Willen wegzaubern. Das allgegenwärtige Gerede von der Augenhöhe macht die Sache nur schlimmer. Die darin liegende Behauptung, man spreche auf Augenhöhe miteinander, verschleiert die Machtasymmetrie. So wird auch noch die Anerkennung des Machtgefälles verweigert.Placeholder infobox-2Augenhöhe ist eine falsche Prinzessin. Anerkennung ist ihre ehrliche Schwester. Aber sie ist das Aschenputtel unter den beiden. Anerkennung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Menschenwürde. Um den Begriff der Menschenwürde zu fassen, hat das Bundesverfassungsgericht die Objektformel entwickelt: „Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt (…), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt“, so das Urteil vom Februar 2006. Diese Achtung des Wertes eines Menschen beginnt mit der Anerkennung seiner existenziellen Bedürfnisse. Die Verweigerung dieser Anerkennung aus einer Position heraus, in der der andere existenziell abhängig ist, macht ihn zum Objekt absoluter Machtausübung. Die Folgen von Armut sind verheerend und schaden der Gesellschaft insgesamt.Armutsbekämpfung heißt, Menschen, die aus gesellschaftlichen Zusammenhängen – etwa dem Arbeitsmarkt oder von Bildung – ausgeschlossen sind, zu integrieren. Die Sanktionsvorschriften unterstellen, die Betroffenen seien diesem Projekt so feindlich gesinnt, dass man sie mit dem Entzug des Nötigsten bedrohen müsse, um sie zum Einlenken zu zwingen. Es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft lernt, Menschen in Armut nicht als Feinde, sondern als Partner zu verstehen und sie für das gemeinsame Projekt der Armutsbekämpfung zu gewinnen. Die Abschaffung der „Hartz IV“-Sanktionen wäre der erste Schritt auf diesem Weg. Wie auch immer das Bundesverfassungsgericht entscheidet: Nach dem Verfahren ist vor dem politischen Prozess. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), hat an der mündlichen Verhandlung im Januar selbst teilgenommen und dabei nicht verheimlicht, dass er die Sanktionen anfassen will und dafür auf Unterstützung aus Karlsruhe hofft. Doch wenn das Bundesverfassungsgericht sich nicht dazu durchringen kann, die Konsequenzen aus dem „Hartz IV“-Urteil vom 2010 zu ziehen und die Sanktionen zu verbieten, wird es jedenfalls nicht zu dem Ergebnis kommen, dass sie verfassungsrechtlich geboten sind. Die SPD kann die Geister, die sie rief, auch ohne das Verfassungsgericht bändigen und politisch für die Abschaffung der Sanktionen streiten.Placeholder authorbio-1
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