Muss Armenien die Region Bergkarabach aufgeben?

Dauerkonflikt Da Aserbaidschan dank türkischer Hilfe militärisch überlegen ist, steht die Regierung in Jerewan vor schmerzhaften Entscheidungen
Ausgabe 38/2022
Wer diesen Hubschrauber wohl bezahlt hat
Wer diesen Hubschrauber wohl bezahlt hat

Leila Turayanova/TASS/Imago

Einer, der den soeben geführten kurzen Grenzkrieg zwischen Aserbaidschan und Armenien verlor, hieß Nichat Werdijew. Er war Soldat der aserbaidschanischen Armee und wurde nicht einmal 20 Jahre alt. Begraben liegt er in der Stadt Gandscha an einer „Allee der Helden“. Die strategischen Gewinner des Krieges aber leben gut 1.200 Kilometer südwestlich von Gandscha, warm und trocken, im Gebäude des türkischen Verteidigungsministeriums in Ankara, das der österreichische Architekt Clemens Holzmeister 1928 entworfen hat. Dort sitzen Männer, die – wie es Kurt Tucholsky nannte – „vom Sterben leben“, die Offiziere und Generäle des Generalstabs. Ohne sie wäre der jüngste Schlagabtausch zwischen Baku und Jerewan kaum möglich gewesen.

Die Türkei ist auch diesmal der Nutznießer einer Konfrontation, bei der vom 11. bis 15. September nach jeweils offiziellen Angaben 71 aserbaidschanische und 105 armenische Militärs umkamen. Die mit schwerer Artillerie ausgetragenen Gefechte setzten den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach fort, der bereits von Ende September bis Anfang November 2020 geführt wurde. Dabei starben seinerzeit mehr als 6.500 Menschen. Aserbaidschan gelang es, einen großen Teil der von Armeniern kontrollierten, international nicht anerkannten „Republik Bergkarabach“ zu besetzen. Dieser De-facto-Staat war 1992 in einem Sezessionskrieg mit Aserbaidschan entstanden.

Der militärische Erfolg des Regimes von Präsident Ilham Alijew im Herbst 2020 war vorrangig das Ergebnis eines massiven türkischen Beistands. Ankara lieferte den aserbaidschanischen Streitkräften Artilleriewaffen, Munition und Drohnen. Letztere sollten sich als kriegsentscheidend erweisen. Eine bestens ausgerüstete Armee rückte vor bis nach Stepanakert, der Landeshauptstadt von Bergkarabach. Dann vermittelte Russland einen Waffenstillstand, der am 10. November 2020 in Kraft trat, jedoch in der armenischen Gesellschaft als Demütigung empfunden wurde und heftig umstritten blieb. Seine Unterzeichnung provozierte Massenproteste gegen Präsident Nikol Paschinjan.

Seither wird kontrovers debattiert, ob eine solche Waffenruhe die Existenz der von Armenien bislang militärisch und finanziell gestützten Republik Bergkarabach sichern kann, solange die andere Seite die Unterstützung der Türkei genießt. In einem Telefonat versicherte deren Verteidigungsminister Hulusi Akar dem aserbaidschanischen Amtskollegen Zakir Hasanov am 13. September nach Angaben der aserbaidschanischen Nachrichtenagentur APA, sein Land werde „Aserbaidschan immer beistehen“. Tage zuvor war Generalstabschef Yaşar Güler in Baku beim Generalstab Aserbaidschans zu Gast. Ende August hatten sich Staatschef Alijew und Verteidigungsminister Zakir Hasanov zu einem „Arbeitsbesuch“ in der „brüderlichen Türkei“ aufgehalten.

Armenien dagegen scheiterte während der jüngsten Kämpfe mit dem Versuch, seine Verbündeten aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu mobilisieren. Die OVKS reagierte eher verhalten und entsandte lediglich eine Beobachtermission nach Armenien. Russlands Führung – selbst wortgewaltige Politiker aus deren Umfeld mit einem Faible fürs Grobe – gaben sich in den heißen Tagen des Konflikts demonstrativ kühl.

Nationaler Verrat

Dahinter steht unverkennbar das Kalkül, sich durch Armenien nicht in einen bewaffneten Konflikt mit Aserbaidschan hineinziehen zu lassen, das für Russland als Partner derzeit wirtschaftlich und geopolitisch wichtiger ist als Armenien. Die offenkundig vertraulich vereinbarte Gegenleistung der Aserbaidschaner, von einstigen Mitarbeitern der russischen Präsidentenadministration kolportiert: Aserbaidschan wird kein Territorium der Republik Armenien besetzen. Es ist lediglich an Karabach interessiert, das man mit dem völkerrechtlichen Rückhalt der Vereinten Nationen als sein Terrain betrachtet. Hinzu kommt, dass Russlands Kapazitäten durch die Ukraine erheblich absorbiert sind, was der Türkei in der südkaukasischen Region – ganz in der Tradition des Osmanischen Reiches – mehr geopolitisches Gewicht verschafft.

Durch das türkische Gambit unter Zugzwang geraten, hat der armenische Präsident Paschinjan angedeutet, er sei „bereit, die Verantwortung zu übernehmen“ für eine „zwar nicht wunderbare, aber notwendige Entscheidung, die nicht über die roten Linien“ der eigenen Interessen hinausgehe. Gemeint ist die Bereitschaft, die Zugehörigkeit Bergkarabachs zu Aserbaidschan anzuerkennen, wenn Aserbaidschan im Gegenzug die Sicherheit des Territoriums der Republik Armenien garantiert. Praktisch hieße das, Jerewan würde seine Hilfe für die Sezessionsrepublik einstellen. Eine Konzession, die aufwühlt und hochemotional diskutiert wird. Karabach oder eben „Arzach“ gilt vielen Armeniern als eine Art nationales Heiligtum – es aufzugeben, wird als „Verrat“ geschmäht. Die Suche nach äußerem Frieden könnte den inneren des Landes in Frage stellen.

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