Armut spricht

#unten Vergangene Woche haben wir gefragt, was es heißt #unten zu sein. Die Reaktionen waren eindrücklich. Hier eine Auswahl der Stimmen
Ausgabe 46/2018
Armut spricht

Illustration: Susann Massute für der Freitag

Guten Tag,

beruflich bin ich Friseurin und gerade im Mutterschutz. Dass ich immer arm war, sieht man ja an meinem Beruf. Das Lehrlingsgeld betrug 300 DM im ersten, 400 DM im zweiten und 600 DM im dritten Lehrjahr.

Mit 16 bin ich zu Hause ausgezogen. Meine Wohnung kostete schon 342 DM, und ich bekam 300 DM Gehalt. Gut, da ist einiges noch selbstgewählt, aber es muss doch möglich sein, auf eigenen Beinen zu stehen, wenn man das möchte. So habe ich immer viele Jobs gleichzeitig gehabt. Nach der Lehre bin ich nach Berlin gezogen. Meinen ersten Job bekam ich ganz schnell: 38,5 Stunden pro Woche und 525 Euro netto.

Wie soll das denn gehen? Einen Tag kein Trinkgeld, dann gab es eben auch nix zu essen. 10 Euro Trinkgeld brauchte ich am Tag für eine Bahnfahrkarte und ein Mittagessen. Im Moment geht es. Unter 12 Euro steh ich aber nicht auf in dem Job. Ist netto auch nicht viel für die Arbeit. Ab der Hälfte des Monats lebt man immer vom Trinkgeld. Ich muss mal schauen, wie das gehen soll mit Kind. Schauen wir, was die Zukunft bringt. Der Beruf wird so schnell ja nicht digitalisiert.

Mit freundlichen Grüßen

Bianca Voss

Stolz auf meine Herkunft

Liebe Redaktion,

ich danke Ihnen für die angestoßene Debatte. Dass auch heute noch die soziale Herkunft über Bildungschancen entscheidet, halte ich für die größte Ungerechtigkeit, die wir in Deutschland haben. „Wir sind viele“, schreibt Christian Baron. Das stimmt. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Wir kommen aus dem Osnabrücker Land, mein Vater hat immer in der Autoindustrie gearbeitet, meine Mutter in Teilzeit als Friseurin.

Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ging der Autozulieferer pleite, mein Vater arbeitete in Kurzarbeit, wurde dann entlassen. Um Geld zu verdienen, wurde er Taxifahrer. Meine Eltern trennten sich kurz davor. Meine Mutter hat sich immer irgendwie über Wasser gehalten, lebte aber meist auf Hartz-IV-Niveau. Das ist mein Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. All das hört sich nicht nach einer Herkunft an, auf die man besonders stolz sein könnte, ich bin es aber!

Mit freundlichen Grüßen

Yannik Marchand

Es kostet total viel Kraft

Sehr geehrte Redaktion des Freitag,

haben Sie vielen Dank für die Artikel. Selbst bin ich von zwei Seiten im Thema. Ich arbeite als Honorarkraft im ambulant betreuten Wohnen und habe mit armen Menschen zu tun. Ich kenne ziemlich gut, was Christian Baron und Britta Steinwachs beschreiben. Auch die Scham. Und die Hoffnungen. Selbst habe ich mit Ende 40 nicht mehr weitermachen können wie bisher. Ich habe Soziale Arbeit studiert und bin dabei auch politisiert worden. Jetzt habe ich nach zwei Jahren das Bewerbungen-Schreiben aufgegeben. Das wird nichts mehr, ich bin inzwischen 57 Jahre alt. Es kostet total viel Kraft, die Ursachen für das Scheitern nicht bei mir zu suchen. Ich erfahre die Abwertung: „Wer arbeiten will, findet Arbeit.“ Ich bin überzeugt, dass ich nicht allein bin mit „meinem“ Problem. Nicht im Hilfesystem. Knapp drüber, und aus Scham bloß nicht reinrutschen (und nicht drüber reden).

Mit freundlichen Grüßen

Anonymisiert

Lieber mal richtig arbeiten

Sehr geehrte Redaktion des Freitag,

ich studiere an einer Uni in Baden-Württemberg Geschichte und Deutsche Literatur. Auch ich bin der Erste in meiner Familie, der studiert. Ich komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie im südlichen Bayern. Meine Mutter hat es tatsächlich geschafft, meine zwei Geschwister und mich durchs Abitur zu bringen.

Das erste Hindernis war jedoch, dass unser Grundschullehrer mir die „Reife“ für das Gymnasium absprechen wollte, obwohl ich stets zu den besten Schülern der Klasse gehörte. Als ich in der zehnten Klasse sitzenblieb, meinte der Direktor, dass das Abitur für jemand wie mich doch eh nichts sei und ich doch lieber mal richtig arbeiten gehen sollte. Den Höhepunkt der Diskriminierung erlebte ich an der Uni. In einem Seminar über Bourdieu gab es eine Prüfung. Danach sagte der Dozent, ich würde ja wegen meines Dialekts gar nicht in ein soziales Feld wie die Uni passen.

Mit freundlichen und solidarischen Grüßen

Anonymisiert

Weder Fisch noch Fleisch

Liebes Freitag-Team,

ich melde mich bei Ihnen per E-Mail, da ich mich am Twitter-Hashtag aus zwei Gründen nicht beteiligen möchte: Erstens habe ich nicht ansatzweise einen so schweren Start gehabt wie viele, die an der Diskussion beteiligt sind, und zweitens käme es mir auch im Kreise meiner Follower eher vor wie ein Jammern auf hohem Niveau, aber auch wie eine Abwertung der Lebensleistung meiner Eltern.

Mein Hintergrund ist weder Fisch noch Fleisch. Es war nicht leicht für mich, dort zu landen, wo ich jetzt bin (Doktorandin in der Humangeografie), aber ich habe im Vergleich zu anderen wenig Gründe, mich zu beschweren. Dennoch bin ich, besonders im Rückblick auf meine letzten Schuljahre und die Zeit meines Studiums, überzeugt, die Hürden der Klassengesellschaft immer wieder gespürt zu haben und nach wie vor zu spüren. Die Aussage „Zufall und Mut statt Neugier und Bildungshunger“ aus dem Artikel von Christian Baron kann ich voll bestätigen. Ich finde das so wichtig, weil ich glaube, dass das viele betrifft, die sich aus ähnlichen Gründen lieber zurückhalten.

Beste Grüße

Mirka Erler

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