„Gotscheff-Müller-Abende sind Fanveranstaltungen, von denen es nie genug geben kann, weil immer noch welche übrig sind, die nie genug davon bekommen können“, konstatierte der Theaterkritiker Ulrich Seidler im Jahr 2011 anlässlich einer Premiere im Deutschen Theater. Diese Fans – auch „liebe Müller-Gemeinde“ genannt – zeichnet der Kritiker als religiös motivierte Randgruppe, die absehbar verschwinden wird.
Diese Polemik bringt die damals vorherrschende Müller-Rezeption auf ihren durchaus komischen Punkt: Wer sich als ernst zu nehmende Diskursteilnehmerin nicht disqualifizieren wollte, tat gut daran, die Auseinandersetzung mit seinen Texten durch ein literaturwissenschaftliches Arbeitsumfeld zu rechtfertigen oder durch biografisch verbürgte Zeitgenossenschaft. Während die Beschäftigung mit Faust nicht zwingend als (Über-)Identifikation mit Goethe interpretiert wird, oszillieren die Person Heiner Müller, ihre öffentliche Figur und die Texte geradezu. Das mag der zeitlichen Nähe seines Todes im Jahr 1995 geschuldet sein, mehr aber noch seiner polarisierenden Präsenz, die den Ost-West-Diskurs nach 1989 geprägt hat. („Es geht jetzt um Differenz und nicht um Einheit.“) Dabei hat er keine Gelegenheit ausgelassen, die Selbstgewissheit der westlichen Gesellschaften, eine dem gescheiterten Sozialismus (auch moralisch) überlegene Instanz zu sein, zu demontieren.
Auch Franz Wille, Redakteur bei Theater heute, spürte für die Spielzeit 2011/12 der zeitgenössischen Müller-Rezeption nach und kam (nach „akribisch durchgeblätterten Spielplanankündigungen von 172 öffentlich subventionierten Theatern von Aachen bis Zürich“) auf zweieinhalb Premieren. Sieht man vom Respekt ab, den Dimiter Gotscheffs letzte Inszenierung, Heiner Müllers Zement beim Theatertreffen 2014, erfahren hat, erstaunt am Medley der Kritiken die Vehemenz der Ablehnung: Müller erscheint als „allwissender Endzeit-Chronist“ oder „weltekelnder Sprachsuchender“, dessen „arrogante Dichterpose“ ein „tragisches Zeugnis von Dichterhochmut“ sei. Sein „Abgesang auf verblichene Utopien“ gleiche einem „gespenstischen Totentanz“ – in „Verlautbarungsdeutsch“.
2015 stellte auch der Theaterkritiker Christian Rakow kritisch fest: „Das Denken einer offenen Gesellschaft im Zeichen der Marktwirtschaft war Müller fremd.“ – Umgekehrt blieb Müller die kognitive Dissonanz ein Rätsel, mit der die Konsumgesellschaften ausblenden, dass sie ihren Wohlstand auf Kosten anderer Menschen und der Umwelt produzieren. („Was ich kaum ertrage, ist die Unschuld der Menschen.“)
2017 erschien die Anthologie „Für alle reicht es nicht. Texte zum Kapitalismus. Das Medienecho war verblüffend: Vom „Aufenthalt in einer Druckkammer, in die man freiwillig seinen Kopf schiebt, um ihn frei zu bekommen“, vom „Dramatiker als luziden und differenzierten Interpreten der Lebenszusammenhänge nach 1989“ und „der schon bei ihrer Entstehung prophetischen Texte“ war die Rede ...
Was ist passiert? Offensichtlich wirken Heiner Müllers Texte und Gedanken als Katalysator für ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein. Dass Müllers Prognosen „Gegenwart“ attestiert wird, ist natürlich keine gute Nachricht. Es bedeutet, dass sich die Probleme der (globalen) sozialen Ungleichheit, die Situation des Weltklimas und der Migration, die politische Bedrohung durch Nationalismen und die Auflösungstendenzen Europas verschärft haben.
Es scheint aber auch die Hoffnung auf ein grundsätzliches Umdenken noch zu existieren. – In der Spielzeit 2019/20 sind übrigens ziemlich viele Müller-Inszenierungen geplant.
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