Artikel I-1 beginnt mit einer Lüge

EU-Verfassungskrise Wer sie lösen will, sollte den Souverän einschalten

Der durchgefallene Verfassungsvertrag der EU beginnt mit der Formel: "Seine Majestät der König der Belgier" - es folgt die Aufzählung weiterer königlicher wie republikanischer Staatsoberhäupter - sind "wie folgt übereingekommen". Nach dieser protokollarischen Reihung beginnt der Artikel I-1 des Vertrags prompt mit einer Lüge: "Geleitet vom Willen der Bürgerinnen und Bürger ...", heißt es da. Doch nur in vier EU-Staaten konnten die Bürger bisher in Referenden ihren Willen zur Verfassung kundtun. Die Franzosen und Niederländer sagten bekanntlich Nein, das Ja der Spanier wurde durch eine Wahlbeteiligung von 42,3 Prozent relativiert, in Luxemburg votierten immerhin 44 Prozent mit Nein. Alle weiteren Ja-Sager waren die Parlamente, nicht die Bürger.

Ansonsten hat Finnland das Ratifikationsverfahren noch nicht abgeschlossen, es fehlen die Voten aus Dänemark und Irland - in beiden Staaten sind Referenden zwingend vorgeschrieben -, desgleichen aus Polen, Portugal, Schweden, Tschechien und Großbritannien. Bei diesen Ländern ist mehrheitlich davon auszugehen, dass keine Ratifikation mehr zustande kommt. Und wer Deutschland zu den Ratifikationsstaaten rechnet, der ignoriert, dass Bundespräsident Köhler wegen der Klagen des Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler (CSU) vor dem Bundesverfassungsgericht das Ratifikationsverfahren unterbrochen hat.

Um aus dieser verfahrenen Lage herauszufinden, soll Kanzlerin Merkel auf Beschluss des Europäischen Rates während des deutschen EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 2007 in einer Art Road Map "mögliche künftige Entwicklungen aufzeigen", während im zweiten Halbjahr 2008, dann unter französischem (!) Vorsitz, Entscheidungen darüber anstehen, wie der Reformprozess fortgesetzt werden soll. Dieser Fahrplan wurde am 11. Oktober bestätigt, als EU-Kommissionspräsident Barroso an der Kabinettssitzung in Berlin teilnahm. In der Zwischenzeit dürfte ohne Verfassung unter Berufung auf die verkorksten Nizza-Verträge kräftig weiter liberalisiert und militarisiert werden. Bekanntlich soll auch die Pflicht zur Aufrüstung Verfassungsrang erhalten - freilich hielt man es in Sachen "Europäische Rüstungsagentur" für überflüssig, auf eine EU-weite Ratifizierung des Verfassungsvertrages zu warten: Die Agentur existiert bereits.

Angesichts der im Augenblick unlösbaren Verfassungskrise gebieten es die politische Vernunft und die Achtung vor den viel beschworenen Werten der Freiheit und Demokratie, einen radikalen Neuanfang zu wagen. Moderne Verfassungen entstanden bislang auf sehr verschiedene Weise, vereinfacht gesagt: Entweder per Verordnung von oben wie das deutsche Grundgesetz, das von den Besatzungsbehörden initiiert und bestätigt wurde. Oder durch eine Revolution und damit von unten wie die französische "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789, die bis heute Bestandteil der Verfassung Frankreichs blieb. Möglich ist auch der Weg über ein gewähltes Organ wie die Weimarer Nationalversammlung von 1919 oder die Bayerische Verfassunggebende Versammlung von 1946, die eine ganz passable Länderverfassung zustande brachte. Warum sollte eine solche Variante für Europa undenkbar sein?

Wer sind denn die in Frage kommenden Verfassungsgeber? Natürlich zunächst die Mitgliedstaaten der EU und deren Regierungen - so wie sie sind. Ohne sie geht nichts, denn die Union soll nicht als Superstaat, sondern als ein Verbund souveräner Staaten konstituiert werden, die aus gutem Grund einen Teil ihrer Hoheitsrechte an die Unionsorgane übertragen und miteinander einen völkerrechtlichen Vertrag schließen. Aber die letztendlich entscheidenden Verfassungsgeber müssen die europäischen Völker, die Bürgerinnen und Bürger sein, und zwar unmittelbar, nicht nur vermittelt über ihre Staaten. Alle Verfassungsgewalt geht von den Völkern aus.

Diesem Prinzip würde die Bildung einer Verfassunggebenden Europäischen Versammlung am besten gerecht, wie das Oskar Lafontaine zusammen mit dem Senator der Sozialistischen Partei Frankreichs, Jean-Luc Mélenchon, vorgeschlagen hat. Wenn Deutschland Anfang 2007 die Ratspräsidentschaft übernimmt, wäre Gelegenheit, den Europäischen Rat dafür zu gewinnen. Ein solcher Neubeginn müsste dem besonderen Charakter der EU als Verbund von Staaten, Völkern und Bürgern Rechnung tragen.

Die Verfassunggebende Versammlung könnte aus zwei Kammern bestehen - einer Bürgerkammer und einer Staatenkammer. Die Mitglieder der ersten könnten wie bei Wahlen zum Europaparlament direkt gewählt werden (mehr als 500 Mitglieder sollte dieses Gremium nicht haben). Die zweite Kammer sollte aus Vertretern der Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit bestehen. Die Erarbeitung des Textes sollte öffentlich vonstatten gehen, so dass die Bürger und ihre Verbände mitreden können. Am Ende wäre in allen EU-Ländern am gleichen Tag und nach den gleichen Regeln per Referendum abzustimmen. Der Verfassungsvertrag würde als angenommen gelten, wenn in allen Ländern eine Zustimmungsrate von mehr als 50 Prozent erreicht ist. Er tritt in Kraft, nachdem die Ratifikationsurkunden hinterlegt sind. Das wäre ein demokratisch legitimierter Weg hin zu einer friedensorientierten, rechts- und sozialstaatlichen Politischen Union. Alle 27 EU-Mitglieder (Bulgarien und Rumänien bereits einbezogen) hätten unter diesen Umständen das Recht, am Verfassungsprozess beteiligt zu sein - von der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung bis zur Ratifizierung. Um dem Einwand zu begegnen, damit fiele jedem einzelnen EU-Mitglied quasi ein Vetorecht zu, könnte überlegt werden, hochgradige Mehrheiten bei Entscheidungen als hinreichendes Erfordernis einzuführen, um die Sache nicht am Veto eines einzigen Nein-Sagers oder einiger weniger Negativ-Voten scheitern zu lassen. Ein solches Verfahren ist politisch und völkerrechtlich legitim und üblich.

Multilaterale Verträge, etwa zur Gründung internationaler Organisationen, treten gewöhnlich nach Hinterlegung einer bestimmten Anzahl von Ratifikationsurkunden in Kraft. Man könnte sich daher darauf einigen, dass der EU-Verfassungsvertrag gilt, sobald 20 Ratifikationsurkunden hinterlegt sind. Selbstverständlich würden die übrigen EU-Staaten nicht aus der Union ausscheiden (es sei denn, sie wollten austreten), sondern blieben auf der Basis der bisherigen Verträge weiterhin Mitglied. Freilich wird man einwenden, das alles klinge gut, sei aber unrealistisch. Mag sein. Aber ohne konsequent demokratischen Weg wird es keine mehrheitsfähige Verfassung für die EU geben.


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