Arzt des Vertrauens

Berliner Abende Meinen Zahnarzt lernte ich an einem Abend näher kennen. Damals wohnte ich zwei Etagen unter seiner Praxis. Uns trennte nur eine Anwaltskanzlei. ...

Meinen Zahnarzt lernte ich an einem Abend näher kennen. Damals wohnte ich zwei Etagen unter seiner Praxis. Uns trennte nur eine Anwaltskanzlei. Zuerst hatte ich nicht vor, aus nachbarschaftlicher Nähe ein Arzt-Patientinnen-Verhältnis werden zu lassen, einen Zahnarzt wechselt man nicht so schnell wie eine Wohnung. Dazu ist die Sache zu existenziell.

Was uns zu Beginn vereinte war ein Vermieter, der uns das Leben ziemlich schwer machte und bei allen im Haus zu gewisser Berühmtheit gelangt war, als er im Eifer eines Wortgefechtes mal den Satz fallen ließ: "Sie klage ich unter eine Brücke meiner Wahl."

Wir hatten also immer ein wenig Gesprächsstoff, der Zahnarzt und ich. Ich schloss dann auch das erste Mal in meinem Leben eine Rechtsschutzversicherung ab, nachdem der Vermieter zu nachtschlafender Zeit bei mir geklingelt hatte, um mir zu sagen, dass ich gekündigt sei, weil ich gegen seine Anweisungen ein Plakat an die Wohnungstür gehängt hatte. Er versprach, mir am nächsten Morgen die Kündigung persönlich vorbeizubringen. Tatsächlich stand er kurz vor zehn wieder vor meiner Tür. Allerdings wollte er sich nur kurz mein Auto borgen, weil sein Mercedes auf dem Hof verreckt war und er einen Termin in einem Fernsehstudio hatte.

Das fand ich so schräg, dass ich ihm ohne Widerrede den Autoschlüssel überließ und danach zum Zahnarzt ging, um die Angelegenheit zu bereden. Bei der Gelegenheit machte ich dann den ersten Behandlungstermin aus.

Und ich bekam eine Einladung zu einer Vernissage, die in den Räumen der Kanzlei und der Praxis stattfinden sollte. Das gefiel mir weitaus besser als ein Vermieter, auf dessen Visitenkarte "TV-Entertainer" stand und der einen ganz normalen Hauskeller zur Souterrainwohnung erklärt hatte, um dort auf Staatskosten Flüchtlinge aus Bosnien einzupferchen.

Ich ging also zur Vernissage, die dazu dienen sollte, einem noch unbekannten Künstler ein paar Existenzsorgen abzunehmen. In der Kanzlei und in den Praxisräumen hingen die großformatigen Bilder des Künstlers, es gab Musik und der Anwalt hielt eine kleine Rede. Das Wartezimmer des Zahnarztes war gut gefüllt und nur wenn man tief einatmete, konnte man noch jenen Geruch wahrnehmen, den wir alle nicht mögen, weil er uns daran erinnert, wie ausgeliefert man jemandem sein kann, der sich an den Zähnen anderer Leute zu schaffen macht.

Es wurde ziemlich viel getrunken und ziemlich viel über Politik geredet. Für eine Vernissage eher sonderbar - das eine und das andere sowieso. Hin und wieder kamen nicht eingeladene, aber doch freundlich begrüßte Gäste dazu, die von der Straße aus gesehen hatten, dass Zahnarzt und Anwalt noch offen hatten. Sie stiefelten durch die Räume, schnappten sich einen Becher Wein und okkupierten einen wildfremden Menschen, um über das Leben zu reden.

An diesem Abend diskutierte ich mit einem Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, zwei Stunden lang über die Krise der Parteien. Der Mann war ein Überläufer, er hatte schon mehrere Parteibücher verschlissen und suchte noch immer so etwas wie eine politische Heimat. So hat er es tatsächlich gesagt.

Als ich früh am Morgen in meine Wohnung ging dachte ich, dass es nicht unangenehm sein könnte, einen Dentisten zu haben, mit dem es sich über Politik reden ließ und einen Anwalt zu kennen, der ein Herz für begabte, aber arme Schlucker hatte.

Von da an ging ich regelmäßig zu diesem Zahnarzt und auch zu den Vernissagen. Hin und wieder wurden zwar Künstler ausgewählt, für einige Monate Praxis- und Kanzleiwände zu zieren, die ich für eher kontraproduktiv hielt: Wenn man angstschlotternd auf einem Behandlungsstuhl liegt, will man nicht auch noch in den seelischen Abgrund einer zutiefst verstörten Persönlichkeit schauen. Aber meist gab es doch eher Angenehmes zu entdecken.

Seitdem habe ich zwar mehrfach die Wohnung gewechselt, aber nicht den Zahnarzt. Die Möglichkeit eines nachbarlichen Schwatzes ist uns nicht mehr gegeben, dafür bemühe ich mich um den letzten Behandlungstermin des Tages, um danach noch in Ruhe mit meinem Zahnarzt und seiner Frau einen Wein trinken zu gehen. Da ich über ausreichend Amalgam im Mund verfüge, finden diese Termine recht häufig statt.

Außerdem ist mit dieser Kombination aus Behandlung und Vergnügen eine gewisse Gerechtigkeit herzustellen. Denn während ich auf dem Behandlungsstuhl liege, gibt mein Zahnarzt den Ton an. Dafür komme ich dann beim Wein in einer nahe gelegenen Kneipe ausreichend zu Wort. Wir nennen das übrigens Hausarztprinzip.


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