Asketische Dickschädel

Konsumstreik Die deutsche Genussfeindlichkeit und die Teuerung haben sich zu einer womöglich wahlentscheidenden Wirtschaftskrise hochgeschaukelt

Mit Einführung des Euro hatte der deutsche Konsument plötzlich - gefühlt - nur noch halb so viel Geld. Beim Blick in Zeitungswerbung und Versandkataloge prangten einem Zahlen entgegen, an die man sich noch so gut erinnern konnte, als wenn es gestern gewesen wäre. Fazit: obwohl ich nur halb so viel Geld habe, wollen mir alle immer noch genauso viel aus der Tasche ziehen. Was denkt sich da der Konsument? Da die mich anscheinend für blöd halten, werde ich denen also in diesem Jahr zeigen, was eine Mündige-Verbraucher-Harke ist. Die Anschaffung von "langlebigen Konsumgütern", wird hinausgeschoben. Was den Gewerkschaften der Arbeitskampf ist, ist dem Konsumenten die Verweigerung. Immer mehr Räder stehen still, auch eine Art Revolution.
Spätestens Ostern bekamen Einzelhandel und Dienstleistungsgewerbe zu spüren, was sie da angerichtet hatten. Sie sprachen von "Konsumstreik" und gaben der Politik und dem Euro die Schuld. Dass es notwendig gewesen wäre, angesichts der Euro-Einführung besondere vertrauensbildende Maßnahmen zu ergreifen, also transparente Preissenkungen, Qualitäts- und Dienstleistungsoffensiven, das schwante ihnen später, als es zu spät war. Die einen rechneten einfach um und glaubten, es werde schon gut gehen; die andern versuchten ihren Schnitt zu machen und rissen alle mit rein. Schuld sind auf jeden Fall immer die anderen.
Allen, Konsumenten und Handel, war die Erkenntnis gemeinsam, dass es im Kapitalismus darauf ankommt, das Gegenüber zu übervorteilen. Alle optimierten also ihren Dickschädel. In dieser Hinsicht ist der Deutsche, das haben EU-weite Statistiken ergeben, allen anderen Nationen voraus. Er sieht sich von Gierhälsen umgeben und weiß sich zu wehren. Seine historisch und kulturell bedingte Genussfeindlichkeit und Askesebereitschaft, gepaart mit dem abrufbaren Reflex des Sparens für "schlechte Zeiten" (Gegenstück der überschuldeten Privathaushalte in den USA), kommt ihm dabei zugute. Das hat nun Schröder die Wahlkampfsuppe gewaltig versalzen. Der "Konsumstreik" verstärkt alle Krisentrends: weniger Nachfrage verstärkt den Konzentrationsprozess im Handel und vernichtet Arbeitsplätze. Wo der Umsatz sinkt, sinken meistens auch die Gewinne. Wo die sinken, sinken auch die Börsenkurse. Bei allen Beteiligten sinkt das Vertrauen. Zeitlich traf das zusammen mit dem Platzen von Spekulation auf immerwährendes Wachstum in der Kommunikations- und Technologiebranche. Machtvolle Gebilde wie der deutsche Kirch-Konzern wurden zum Einsturz gebracht, weil die Konsumenten sich standhaft weigerten, Pay-TV zu abonnieren.
Die Arbeitslosigkeit wächst. Über vier Millionen sind es schon im Sommer. Die Zahl der Modernisierungsverlierer steigt, die der -gewinner sinkt. Schätzungsweise weitere zehn Millionen fürchten sich davor, insbesondere die "Neue Mitte" aus der "New Economy", auf die es Schröder doch angeblich immer abgesehen hatte. In dieser Situation ließ er nun von Teilen seiner Hartz-Kommission so "innovative Ideen" propagieren, wie die Verkürzung des Arbeitslosengeldes, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die Verschärfung von Zumutbarkeitskriterien in Richtung Zwangsarbeit und die "Ich-AG". Die zehn Millionen, die sich fürchten, haben also bis zur Bundestagswahl genügend Zeit, sich auszurechnen, was ihnen blüht, wenn es sie demnächst auch erwischt. Mit solchen Aussichten wird der Mensch alles Mögliche, aber sicher nicht konsumfreudig. Die "Ich-AG" ist im Kopf schon längst aktiv. So schreibt sich ein klassisches Drehbuch für einen Streik, der nahtlos vom Konsumenten auf den Wähler übergeht.
Zusammengebrochen ist in unserer Gesellschaft der "Ich-AGs" vieles, was Vertrauen geschaffen hat: Kirchen, Gewerkschaften, Parteien schaffen es schon lange nicht mehr. Den persönlich bekannten Einzelhändler, den Gastwirt, der auch ein Freund ist, gibt es kaum noch. Meistens wird dort eingekauft, wo es am billigsten ist. Vertrauen gehört dort allerdings nicht zum Angebot. Dieses Manko ist jetzt zutage getreten und bedroht nicht nur Konjunktur und Wirtschaft, sondern auch die Demokratie. Welche "Ich-AG" soll sich für die interessieren, Herr Hartz?

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