Asyl am Westend

Obdachlos in Budapest Der Seelsorger Gabor Ivanyi und das graue Hospital im Hinterhaus

"Der Mensch - ist frei ... er hat selbst für alles zu bezahlen; für seinen Glauben, für seinen Unglauben, für seine Liebe, für seine Vernunft. Der Mensch zahlt für alles selbst und darum ist er - frei!"

Satin im Stück Nachtasyl

von Maxim Gorki

Erst auf den zweiten Blick fallen sie auf. Sie stehen in Hauseingängen und U-Bahnunterführungen oder sitzen auf Parkbänken und am Straßenrand. Zu viele, als dass man sie ignorieren könnte. Schon gar nicht unter den Donau-Brücken, wo Matratzenlager für die nächste und übernächste Nacht aufgeschlagen sind, oder in den stilleren Seitenstraßen, in denen junge und alte Männer die Müllcontainer nach Speiseresten durchsuchen.

In der Untergrundpassage des Budapester Westbahnhofs liegt die glitzernde Shopping-Mall Westend. Das einer Kleinstadt nachempfundene Labyrinth aus schmalen Geschäftsstraßen reiht ein Etablissement an das andere. Ob Rossmann, C oder dm, nichts unterscheidet diesen Großmarkt von der in Deutschland üblichen Spielart dieser Spezies. Verlässt man das abgesicherte Areal mit einigen wenigen Schritten und wirft einen Blick in die angrenzenden U-Bahnzugänge, gleicht dies dem Sprung in eine andere Welt. Schon vor dem abendlichen Geschäftsschluss kann sich dieser Bezirk der Budapester Unterwelt in ein riesiges Schlaflager verwandeln. Wer rechtzeitig eintrifft, erhält die besten Plätze. Und wer viel zu früh kommt, den bestraft ein unerbittlicher Sicherheitsdienst mit Platzverweis.

In den Zugängen und Tunneln der Metro ein Nachtasyl ergattert zu haben, gilt für einen, der sonst kein Dach über dem Kopf hat, als Luxus, auch im Sommer. Für die meisten der mehr als 30.000 Obdachlosen allerdings bietet das unterirdische Metro-Areal keinen Platz, um sich für eine Nacht davon zu träumen aus Leere, Schmutz und Selbstmitleid.

Matratzen mit blauem Plastiküberzug

600.000 Ungarn leben nach Schätzungen derzeit landesweit auf der Straße, in Parks oder Notunterkünften. Mit dem Systemwechsel 1989/90 wurden schlagartig die Arbeiterwohnheime geschlossen, in denen auch all jenen ein Bett garantiert war, die über keine eigene Wohnung verfügten, aber einen Arbeitsplatz vorweisen konnten.

Um die Konsequenzen dieses Bruchs weiß kaum einer so gut wie Gabor Ivanyi. Der Seelsorger gründete 1989 zusammen mit seinem Bruder den karitativen Verein Oltalom ("Zuflucht"), der inzwischen auch das erste und bislang einzige Hospital für Obdachlose in Ungarn unterhält. Im VIII. Bezirk beherbergt ein Gründerzeit-Hinterhaus im ersten Hof dieses Asyl der Verlierer und Verlorenen. Gabor Ivanyi hat viel erlebt in den vergangenen 15 Jahren und spricht von den "täglichen Tragödien", von denen zu erfahren manchmal die eigene Kraft übersteige. Er wirkt wie ein Arzt, für den alle Krankheiten unheilbar sind, und der daher mit der Aufgabe leben muss, dies vor seinen Patienten unbedingt zu verheimlichen. Zehntausende von Haushalten besonders in den Städten seien so überschuldet, so dass die Menschen jederzeit vor die Tür gesetzt werden und vor seiner Tür stehen könnten.

Als er vor Jahren, erzählt Ivanyi, Waisenkinder betreut habe, sei ihm mit der Zeit aufgefallen, dass fast alle Zöglinge, wenn sie mit 16 das Heim verließen, überwiegend auf der Straße landeten. Dies habe ihn regelrecht dazu verurteilt, sich mit seinem Bruder Tibór, der Arzt sei, vorrangig für die jungen Obdachlosen einzusetzen und ihnen die Rückkehr in ein normales Leben zu erleichtern. Mittlerweile sei Olatalom aus Budapest nicht mehr wegzudenken.

Die Einrichtungen des Vereins gelten als Refugium, das im Winter für viele Wohnungslose ein letzter Fluchtpunkt vor dem Kältetod sein kann. Trotz der karitativen Mission, die man übernommen habe, sei der Staat leider nicht bereit, mehr als 49 Prozent der laufenden Kosten zu übernehmen, bedauert Ivanyi. Der Rest müsse daher durch die Kommune, durch Spenden und Benefizveranstaltungen erwirtschaftet werden.

Ivanyis Tochter Eva steht in der Tür - sie ist die Oberschwester der Krankenstation - und bietet eine Führung durch das Gebäude an, die im Keller beginnt. Etwa 80 eng aneinander gereihte Betten füllen einen Schlafsaal, in dem es nach Feuchtigkeit, Moder und Desinfektionsmitteln riecht. Trübes Licht fällt durch die schmalen Fensterspalten am oberen Deckenrand. Wände und Fußboden sind gekachelt und grau wie die Gesichter der Patienten, die Matratzen mit blauem Plastik überzogen. Im Geschoss darüber liegen die Behandlungsräume, ausgestattet mit dem Allernötigsten. Es sei nicht leicht gewesen, meint Eva Ivanyi, allein für diese wahrlich bescheidene medizinische Ausrüstung die Gelder zu beschaffen. In mühevoller Kleinarbeit sei dieser Teil des Hinterhauses zunächst einmal auf eigene Kosten saniert worden - im Gegenzug habe die Stadt Budapest für die nächsten 100 Jahre auf die Miete verzichtet. Eine Geste, die wohl auch darauf hindeutet, noch auf Jahrzehnte hinaus mit einer grassierenden Obdachlosigkeit zu rechnen.

Auf dem Innenhof treffen wir Barnabas Fárkas, einen jungen Sozialarbeiter, der zu verstehen gibt, mit diesem Nothospital lasse sich in Budapest lediglich die Spitze des Eisberges in Augenschein nehmen. In den Wäldern rund um die Stadt seien teils regelrechte Slums entstanden. Das klingt so unglaublich und abenteuerlich zugleich, dass wir uns für den nächsten Tag zu einer Exkursion verabreden.

Überwintern im Wald

Wir fahren mit dem Zug nach Kispest, einem der Außenbezirke, um an der Endstation in einen Bus umzusteigen, der uns gleich hinter den letzten Wohnblocks an der Peripherie der Stadt absetzt. Nachdem wir ein Bahngleis überquert haben, zeigt Barnabas auf ein Waldstück, in dem viele Obdachlose ein Unterkommen gefunden haben sollen. Er sei schon einmal in dieser Gegend unterwegs gewesen, kein sonderlich angenehmes Erlebnis, könne er versichern. Auf halber Strecke habe ihn ein Rudel Hunde angegriffen. Seither laufe er nur noch mit einem Stock in der Hand durch dieses Gebiet.

Nach 20 Minuten Marsch hören wir Hundegekläff. Barnabas bleibt stehen und ruft ein kräftiges "Hallo". Keine Antwort. Nach dem dritten Ruf hören wir eine Stimme. Barnabas gibt uns ein Zeichen, jetzt entschlossen weiter zu laufen. Kurz darauf sehen wir einen schmächtigen, etwa 35 Jahre alten Mann in einer blauen Sportjacke, der uns begrüßt und umstandslos zu einer Lichtung führt. Nun sehen wir auch die Hunde. Drei mittelgroße Mischlinge, an verschiedenen Stellen angekettet, bellen in unsere Richtung. Sie bewachen eine Behausung, wie man sie schon auf Filmbildern aus den Favelas von Caracas oder Rio gesehen zu haben glaubt, gebaut aus alten Fensterrahmen, Holzpaletten, Wellblech und Plastikfolie. Der Regen vom Vortag hat den Boden aufgeweicht, Fliegen und Stechmücken tänzeln in der Sonne, Rauch treibt mit ein paar Katzenbewegungen dem Wald entgegen.

Csaba, so heißt der Mann, will seit sieben Jahren hier mitten auf dieser Schneise hausen. Anfang der neunziger Jahre habe er sich aufgerafft, zusammen mit seiner Mutter aus einer ländlichen Gegend nach Budapest zu ziehen, um dort wieder Arbeit zu finden, nach Möglichkeit als Ambulanzassistent, so wie früher. Doch bald hätten sich alle Hoffnungen zerschlagen, als seine Mutter nach zwei Schlaganfällen gepflegt werden musste. Da sie kein Heim als Sozialfall aufnehmen wollte, übernahm der Sohn die Betreuung und gab den größten Teil seiner kläglichen Sozialhilfe für die Medikamente und Arzthonorare aus - der Rest habe nicht einmal für die nötigsten Lebensmittel gereicht, von der Miete ganz zu schweigen. So kam es, dass sie schließlich ihre Wohnung aufgaben und hierher "ins Gelände" zogen.

Während Csaba seine Geschichte erzählt, hören wir aus dem Inneren der Hütte die Stimme einer Frau. Csaba verschwindet für einen Augenblick, die Hunde liegen friedlich in der Sonne, der feuchte Boden dampft noch immer, und auch die Stechmücken finden keine Ruhe. Die Mutter will uns begrüßen. Die Hütte ist so winzig, dass ihr Bett fast den ganzen Raum ausfüllt. Wir setzen uns auf zwei Kisten, da es zum Stehen viel zu niedrig ist. Als habe die Mutter seit Jahren nur darauf gewartet, endlich jemandem ihr Leid zu klagen, beginnt sie, ihre Geschichte zu schildern mit allen Anfängen und allen Enden, bei denen immer das Schlimmste unausweichlich scheint. Sie spricht von den furchtbaren Wintern, die sie hier schon ertragen mussten, und von ihren Träumen, in denen sie wieder eine Wohnung haben, bis von einem Augenblick zum anderen dieses Kartenhaus in sich zusammenfällt.

Csaba meint, seit dem letzten Schlaganfall habe sich der Zustand seiner Mutter spürbar verschlechtert. Oft sei sie geistig abwesend und habe starke Schmerzen. "Ich bin in einer Zwickmühle, auf der einen Seite muss ich bei meiner Mutter bleiben, um sie zu pflegen und zu beschützen, auf der anderen bin ich gezwungen, etwas Geld zu verdienen, um Lebensmittel und Medikamente besorgen zu können." Wir fragen gar nicht erst, wie das bei einem Leben mitten im Wald überhaupt möglich ist. Die letzten Sonnenstrahlen dieses Sommertages scheinen durch die milchigen Plastikfenster. Csaba dreht sich eine Zigarette aus alten Kippen, um uns bald darauf zu verabschieden.

Obwohl Barnabas, der Sozialarbeiter, täglich soviel sehen muss, hat ihn diese Begegnung sichtlich getroffen. Während wir durch das Unterholz in Richtung Stadt zurückkehren, erzählt er von vielen anderen Obdachlosen, die hier in den Wäldern in ähnlichen Quartieren hausen müssten. Er fühle sich zuweilen an Bilder aus dem 19. Jahrhundert erinnert. Aber in Budapest wolle natürlich von offizieller Seite niemand das Wort "Slum" auch nur in den Mund nehmen. Auf einer Anhöhe bleiben wir stehen und können in der Dämmerung weitere Hütten sehen - der Blick auf ein Niemandsland, weit draußen vor der Stadt.

Es ist schon dunkel, als wir Kispest, den Vorort, wieder erreichen. Wie graue Riesen ragen die Plattenbauten in den Himmel. Feindlich sehen sie aus, wie eine Festung, deren Zugbrücken längst hochgezogen sind.


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