Atemlos, aber intensiv

Im Kino Was Alejandro González Iñárritu in "21 Gramm" in wilden Zeitsprüngen erzählt, setzt sich als Schicksalslogik wieder zusammen

Eigentlich sind es Elemente wie aus der Soap-Opera: Der Mann, der nach erfolgter Herztransplantation den Organspender ausfindig macht und sich dann in dessen Witwe verliebt. Die Frau, die alles daran setzt, von ihrem sterbenden Mann "wenigstens" noch ein Kind zu bekommen. Der Verbrecher, der nach dem Gefängnis ein neues Leben anfängt und durch Umstände außerhalb seiner Macht erneut schuldig wird. Die Mutter, die nach dem Unfalltod ihres Mannes und ihrer Kinder nicht weiß, wie sie weiterleben soll. Es handelt es sich um suggestive Geschichten, die sich einerseits irreal anfühlen - das normale Leben wird jenseits solcher Schicksalsschläge verortet -, andererseits aber um so mehr die Ängste eines Jeden ansprechen: Was, wenn ich mich durch solch tragische Umstände aus dem normalen Leben herausgerissen sähe?

So groß die emotionale Wucht dieser Situationen auch ist, mangelt es in ihnen doch zugleich an Originalität: Sie sind Allerweltsmuster für Tragik. Wie um das unkenntlich zu machen, wirft Iñárritu in 21 Gramm von Anfang an die Chronologie des Erzählens durcheinander. Man sieht verschiedene Personen und Paare in verschiedenen Situationen und unterschiedlicher Zusammensetzung. Erst nach einiger Zeit verfügt man über genügend Informationen, um die fragmentartigen Dialoge und Szenen überhaupt sinnvoll einordnen zu können. Willkürlich scheint die Handlung vor und zurück zu springen, aber unweigerlich setzt sich das Gesehene im Kopf des Betrachters entlang einer Erzähllogik wieder zusammen.

Das Hauptvergnügen der ersten halben Stunde besteht denn auch prompt darin, dass man sich als Zuschauer schlau fühlen darf, sobald man aus dem Puzzle die Ausgangssituation erraten hat: Sean Penn ist Paul, ein Mathematikprofessor mit Herzfehler, dessen Ehe mit Mary (Charlotte Gainsbourg) gerade zerbricht. Naomi Watts spielt Cristina, eine ehemalige Drogenabhängige, nun die glücklich verheiratete Mutter zweier süßer Töchter; Benicio Del Toro verkörpert den Straffälligen, der mit geradezu krimineller Energie im christlichen Glauben das Gegengift zu dem zu finden versucht, was ihn vorher zum Verbrecher hat werden lassen. Ein Autounfall bringt sie verhängnisvoll zusammen: Den fahrerflüchtigen Mörder einer ganzen Familie, der zum Schutz der eigenen sich zu seiner Schuld nicht bekennen kann, denjenigen, der diesem Unfall sein Weiterleben verdankt und mit dieser Schuld nicht fertig wird, und schließlich die Hinterbliebene, die im Bedürfnis nach Vergeltung unwissentlich die eine Schuld gegen die andere ausspielt.

Je hartnäckiger der Film in der Schnittfolge jede Handlungslogik zersetzt, desto begieriger konzentriert sich der Zuschauer auf die Schauspieler. Es ist ihr nuancenreiches und in sich stimmiges Spiel, das dem Film eine Intensität verleiht, der man sich kaum verweigern kann.

Und das, obwohl sich eigentlich kaum sagen lässt, dass einem die Figuren sympathisch seien. Zum Beispiel im Fall von Benicio Del Toro, der für diese Rolle eine Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller erhielt: Zu deutlich ist sichtbar, dass der demonstrative Erweckungsglaube dieses vormaligen Sünders nur ein notdürftiges Korsett bildet, um wenigstens scheinbar die Kontrolle zu behalten. Denn jenseits der Glaubensstrenge wirkt diese Figur merkwürdig konturlos und aus den Fugen; mehr Kraftfeld als Körper scheint er die Schuld weniger zu verursachen als vielmehr auf sich zu ziehen.

Ähnliches gilt für die von Naomi Watts gespielte Cristina (im übrigen ebenso mit einer Oscar-Nominierung bedacht): Wo man für sie als trauernder Witwe noch Mitleid verspürt, macht die sichtliche emotionale Verwahrlosung der Figur diese Sympathieregung bald vergessen. Selbst Sean Penns herzkranker Paul kann den Zuschauer nicht richtig für sich erwärmen: zu sehr scheint er die Verzweiflung der anderen zu brauchen, um an die eigene heranzukommen.

Grobkörnig und teilweise nur notdürftig ausgeleuchtet kommt 21 Gramm visuell daher. Eine Atemlosigkeit und Gehetztheit geht von diesem Film aus, die noch lange nachwirkt. Was wäre, wenn Iñárritu in chronologischer Reihenfolge, ohne Rätselstruktur und ohne Blutspuren, die uns vermeintlich in die falsche Richtung führen, erzählen würde? Wir würden wahrscheinlich mit sehr viel weniger Aufmerksamkeit hinschauen. So aber vergisst man nur schwer wieder, dass der menschliche Körper im Moment seines Todes um 21 Gramm leichter wird.


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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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