Athener Zustände: Wenn die Moral ins Private ausweicht

Kulturkommentar Anständig ist man nur bei sich: Die Griechen misstrauen dem Staat und haben gelernt, wie sie ihn austricksen können.

Griechische Männer pinkeln nicht in Pissoirs. Die sind zwar nicht so verbreitet wie in Deutschland, aber dort, wo es sie gibt, in den Multiplex-Kinos, Bowling- Centern oder auf Flughäfen, geht der Grieche an ihnen vorbei in die Kabinen und schließt die Tür. Drinnen pinkelt er zwar genauso im Stehen, aber nun für sich alleine. Diese Marotte führt direkt in die griechische Misere, wie sie nun auch die deutschen Steuerzahler beschäftigt. Die von der EU überwachte Sparpolitik wird das Leben der Griechen radikal verändern. Nach Jahren der Verschwendung, des olympischen Größenwahns, des hemmungslosen Konsumismus, des vulgären Neureichtums und der politischen Skandale geht die Angst um vor der Verarmung. Sie wird nicht zuletzt von der Regierung geschürt, um den Protestwillen des Volkes zu bändigen. Die Klischees allerdings, die in den deutschen und griechischen Medien vom anderen kursieren: da der faule, sonnengebräunte Trickser, dort der scheinheilige Export-Nazi, sind heuchlerisch. Wohl wahr, dass Griechenland seinen Wohlstand jahrelang über Staatsschulden und EU-Fördermittel finanzierte und dass Steuergelder en masse veruntreut wurden. Andererseits konsumierten die Griechen vor allem auch deutsche Waren.


Doch es sind nicht nur ökonomische Faktoren, die Griechenland vor den Staatsbankrott gebracht haben. Bislang war in Griechenland die chauvinistische Hybris verbreitet, Europa und die Demokratie im Alleingang erfunden zu haben. Ein bürgerliches Nationalbewusstsein dagegen fehlte. Wie auch? Die Aufklärung hatte nicht stattgefunden. Als sich in Europa ein bürgerliches Bewusstsein und eine bürgerliche Moral ausbildete, war Griechenland Teil des Osmanischen Reiches. Die Modernisierungs- und Wohlstandsschübe des 20. Jahrhunderts ließen einen Individualismus wuchern, der sich bereicherte, wo er konnte, und sich auslebte, ohne soziale Verantwortung zu übernehmen. Ob die Inbesitznahme der öffentlichen Plätze durch Cafeterien- und Tavernenbesitzer oder das Parken auf den Bürgersteigen – überall wurde der öffentliche Raum wie selbstverständlich beschnitten und umfunktioniert.

Keine Moral

Was von ihm übriggeblieben war, nutzten zuletzt die, die nichts anderes hatten: die griechischen Kinder und Alten betreuenden Osteuropäerinnen trafen sich auf dem Omonia-Platz im Zentrum Athens zum Schwatz, die Pakistaner im Park der Akademie Platons zum Cricketspiel. Die Griechen selbst saßen unter Sonnenschirmen im Freundeskreis, rauchten und nippten an ihren überteuerten Eis-Kaffees. Sie, die tagtäglich sahen, wie man die Behörden mit Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung bescheißen musste, um über die Runden zu kommen in der Schattenwirtschaft der Fakelakia, der zugeschobenen Bestechungsgelder, lernten, ihrem Staat und der Öffentlichkeit grundsätzlich zu misstrauen. Moral gab es nur noch im Privaten, in der Familie, unter Freunden.

In der jetzigen Krise stehen die Griechen und ihre Regierung vor der Auf­gabe, dieses Vertrauen endlich zu ge­winnen, das heißt in erster Linie, die Korruption zu bekämpfen. Diese Auf­gabe scheint um so schwieriger, als sich in der Not zuerst einmal jeder selbst der Nächste ist. Der öffentliche Raum fängt auf der Toilette an.




Der Schriftsteller Patrick Hofmann lebte sieben Jahre in Athen. 2009 zog er mit seiner Familie nach Berlin. Für seinen Debütroman Die letzte Sau wurde er mit dem Robert-Walser-Preis 2010 ausgezeichnet

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