In Saporischschja droht ein Super-GAU!

Meinung Atomkraft? Nein Danke! Die Atompolitik von vier westlichen Staaten steht hinter dem Betrieb des größten Atomkraftwerks in Europa. Jetzt ist es zu einem strategischen Kriegsmittel geworden. Die Eskalationsgefahr muss schnell gebannt werden
Ausgabe 33/2022
Droht in der Ukraine ein Super-GAU?
Droht in der Ukraine ein Super-GAU?

Foto: Imago/SNA

Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie und darf niemals zum Spielball in einem Krieg werden – das schien zu Jahresbeginn noch weltweit Konsens zu sein. Nun ist es dennoch passiert: Europas größtes Atomkraftwerk ist Angriffsziel und strategisches Mittel der Kriegsparteien geworden. Beide Seiten beschuldigen sich des Raketenbeschusses auf die empfindliche Infrastruktur. Die möglichen Auswirkungen eines Super-GAUs in Saporischschja sind so gewaltig, dass dessen Verhinderung absolut vorrangiges Ziel sein sollte. Die Weltgemeinschaft muss umgehend alle denkbaren diplomatischen Hebel in Bewegung setzen. Die Zeit drängt.

Wenn 42 Staaten einschließlich der Bundesregierung Wolodymyr Selenskyjs Forderung an Russland bekräftigen, alle Truppen vom AKW-Gelände und aus der Ukraine abzuziehen, dann ist das wenig hilfreich. Natürlich liegt die Ursache des Übels in Wladimir Putins brutalem Überfall und darin, dass russische Truppen das AKW unter Missachtung internationalen Kriegsrechts Anfang März unter ihre Kontrolle brachten, nun sogar als Militärstützpunkt missbrauchen. Doch es gilt, ein gerade ausgebrochenes Feuer so schnell wie möglich zu löschen, statt zuerst nach dem Schuldigen zu suchen oder die Anforderungen an eine Löschaktion zu hoch zu hängen, als dass sie umgesetzt würde.

Seit Wochen versucht der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Rafael Grossi, eine dringend notwendige Vor-Ort-Inspektion der Anlage in die Wege zu leiten. Anlass zur Hoffnung gibt, dass nun sowohl Russland als auch die Ukraine dem Besuch der Expertengruppe um Grossi zustimmen. Doch es muss viel mehr geschehen.

Die Ärzteorganisation IPPNW und andere Anti-Atom-Initiativen sehen neben der UN vor allem Schweden, die Niederlande, Großbritannien und Deutschland in der Pflicht, diplomatisch einzugreifen, Verhandlungen zu ermöglichen und eine neutrale, entmilitarisierte Schutzzone um das Atomkraftwerk zu errichten. Denn unter der Kontrolle dieser Staaten werden seit Jahren vier der sechs Reaktoren in Saporischschja mit Brennstoff beliefert – mit Urenco-Uran aus Gronau, das der Konzern Westinghouse in Schweden zu Brennelementen verarbeitet. Statt die Ukraine beim Ausbau erneuerbarer Energien zu unterstützen, verfolgten diese Länder eine falsche Atompolitik, die nun zum Desaster beiträgt.

Die Sicherheit der 37-jährigen Atomanlage an der Frontlinie ist nicht nur durch direkte Raketenangriffe bedroht. Auch eine längere Unterbrechung der Stromzufuhr von außen – ein realistisches Szenario – könnte unter ungünstigen Umständen zu einer Havarie führen. Atomkraftwerke können zwar durch einen stark reduzierten Betrieb genau die Menge an Strom produzieren, die zur Kühlung der heißen Brennstäbe im Reaktorkern und in den Kühlbecken notwendig ist. Doch dieser „Inselbetrieb“ ist sehr instabil. Fällt er aus, springen im Regelfall die Notstromgeneratoren für maximal zehn Tage ein. Ob diese in Saporischschja zuverlässig sind, ist zweifelhaft. Zudem könnten sie schwer beschädigt werden, etwa durch Beschuss oder eine Überschwemmung, falls der flussaufwärts gelegene Staudamm durch Sabotage bricht.

Eine Schutzzone wäre ein wichtiger Schritt, doch letztlich nur ein Kompromiss. Dass vor allem die Ukraine und Russland unter einem Super-GAU in Saporischschja leiden würden, kann sie bei direkten Verhandlungen vielleicht zu der Einsicht zwingen, wie erstrebenswert das Ende dieses Krieges ist.

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