Schule für alle Das deutsche Bildungssystem setzt auf Trennung. Nun hat sich eine Schule das Recht auf Integrationsunterricht vor Gericht erstritten. Ein Präzendenzfall?
Die Integrative Waldorfschule Emmendingen steht nun auf sicheren Füßen. Doch das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg enthält einen Sprengsatz. Um durchzusetzen, was im Schulwesen anderer Länder zum Standard gehört, muss man hierzulande vor Gericht ziehen. Dürfen als behindert eingestufte Kinder gemeinsam mit Schülern unterrichtet werden, die keine bescheinigten Auffälligkeiten aufweisen? Anderswo, etwa in Skandinavien, ist das selbstverständlich. Man weiß dort, dass es funktioniert und sogar für beide Seiten von Vorteil ist, für die ganz normalen Kinder und für solche, die von der Norm abweichen.
Doch in Deutschland ist dies noch Zukunftsmusik. Hier werden 85 Prozent der als behindert eingestuften Kinder in Sonderschulen g
rschulen gesteckt. In den meisten Bundesländern besteht man auf säuberlicher Trennung: Ganz oben Eliteanstalten für Hochbegabte und ganz unten die Sonderschulen, die man da und dort gnädig „Förderschulen“ nennt.Illegal unterrichtetAls die Integrative Waldorfschule im badischen Emmendingen daher im Herbst 2008 vor Gericht zog, um das Recht auf eine sinnvolle Pädagogik zu erstreiten, war überhaupt nicht klar, ob sie sich durchsetzen würde. Seit 1995 hatte sie behinderte und nichtbehinderte Schüler in den gleichen Gruppen unterrichtet. 2007 bescheinigte ihr das Freiburger Regierungspräsidium, die Schule mache einen „rundum lobenswerten und positiven Eindruck“. Doch das Projekt, in dessen Rahmen die Schule mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde, lief zum Schuljahresende 2008 aus. Vier behinderte Erstklässer, die nach diesem Zeitpunkt eingeschult worden waren, wurden ab jetzt gewissermaßen illegal unterrichtet.Öffentliche Proteste, das Engagement von Abgeordneten und die Einreichung von Petitionen halfen wenig. Erst durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg wurde klar, dass nach dessen Auffassung die Arbeit der Integrativen Waldorfschule dem baden-württembergischen Schulgesetz nicht widerspricht, auch wenn dieses von der grundsätzlichen Trennung des Unterrichts für behinderte und nicht behinderte Schüler ausgeht. Die pädagogische Gesamtkonzeption des Landesgesetzgebers – so etwas sibyllinisch das Gericht – werde dadurch nicht unterlaufen. Und dann geschah ein Wunder: Die baden-württembergische Landesregierung verzichtete darauf, in die Berufung zu gehen und gab damit den Weg für die Fortsetzung des integrativen Unterrichts frei.Prinzip IndividualisierungOrtsbesichtigung in der zweiten Klasse der Integrativen Waldorfschule Emmendingen. 18 Kinder sitzen im Kreis auf breiten Holzbänken, die ihnen zugleich als Tische dienen können. Der freundliche Klassenraum ist sonnendurchflutet und in seiner Einrichtung, so wie die Schule überhaupt, von gemäßigt anthroposophischer Ausstrahlung. Vorhänge in hellem Gelb, an der Tafel die Kreidezeichnung eines farbigen Mandalas. Im Hintergrund ein Klettergerüst für Körperübungen und zum gelegentlichen Abreagieren des Bewegungsdrangs. Die Kinder heißen Piotr, Emilio, Van Son oder Maja. Vier Kinder sind behindert. Aber welche sind das? Erik könnte es sein, denn er nimmt am Geschehen in der Klasse kaum Anteil. Aber Erik ist einer von den „Normalen“, und die fallen mitunter mehr auf als die Behinderten. „Es kostet heute oft mehr Mühe, die als normal geltenden Kinder sozial zu integrieren als die behinderten“, sagt die Heilpädagogin Almut Isbary.Aber das ist an der Integrativen Waldorfschule kein Problem: Hier werden alle Kinder so genommen, wie sie sind. Und das heißt, dass auf Ausgliederung und Selektion verzichtet wird. Nicht das Kind hat sich dem Schulsystem anzupassen, sondern die Schule ist dem Kind gegenüber in der Pflicht. Sie hat sich etwas einfallen zu lassen.Dementsprechend lernen auf der Integrativen Waldorfschule nicht nur die Schüler, auch die Schule selbst befindet sich in einem Lernprozess. In jeder Klasse suchen mindestens zwei Fachkräfte nach dem richtigen Weg. Jeder Lehrer wird von einem Heilpädagogen unterstützt, und auch dieser hat gelegentlich noch einen Assistenten. Klar ist, dass alles auf dem Prinzip der Individualisierung aufbaut. Jedes Kind hat besondere Voraussetzungen, also bekommt es die Aufgaben, die zu ihm passen. Fortschritte werden nicht mit dem Rest der Klasse verglichen, sondern an den eigenen Leistungszuwächsen gemessen, natürlich ohne Noten und Sitzenbleiben.„Wir sind bundesweit die einzige Schule, die integrativen Unterricht bis zur Klasse 12 anbietet“, so Michael Löser, der Geschäftsführer der Schule. Freilich ist es nicht auf allen Klassenstufen und im Hinblick auf alle Themen möglich, sämtliche Schüler zusammen zu unterrichten. Goethes Dichtungen zum Beispiel sind nicht allen Schülern in der gleichen Weise zugänglich. Aber Goethes wundervolles „Über allen Gipfeln ist Ruh“ – ein solches Gedicht kann auch ein Schüler mit Down-Syndrom rezitieren. „Es gibt keine Defiziterlebnisse. Alle Schüler kommen mit ihren unterschiedlichen Begabungen zu ihrem Recht“, so Löser. Dennoch oder gerade deshalb werden die von den öffentlichen Prüfungsordnungen geforderten Leistungsstandards erreicht. In Emmendingen kann die Mittlere Reife erworben werden, und das Abitur wird von der benachbarten Waldorfschule in Freiburg abgenommen.Natürlich hatte sich die Schule vor dem Verwaltungsgericht auf die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 berufen. Danach sind die Vertragsstaaten völkerrechtlich verpflichtet, das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit in einem inklusiven Bildungssystem zu gewährleisten. Das Vertragsgesetz der Bundesregierung zur Ratifizierung dieser UN-Konvention trat zum 1. Januar 2009 in Kraft.Furcht vor KlagenDoch das Freiburger Urteil verwarf diese Begründung und berief sich stattdessen auf Art. 7, Abs. 4 des Grundgesetzes und damit auf das Recht zur Gründung gleichwertiger Privatschulen. Vielleicht wollte das Gericht keinen Präzedenzfall schaffen. Denn bundesweit sind zur Zeit Eltern dabei, aus der UN-Konvention einen Rechtsanspruch herzuleiten. Und ein Rechtsanspruch auf Inklusion wird hierzulande nicht gerne gesehen. Das grundsätzlich mehrgliedrige Schulwesen würde gewissermaßen von unten her gesprengt. Wer behindert ist und aufgrund der Vielgliedrigkeit den schwarzen Peter gezogen hat, könnte gerichtlich alles durcheinander bringen. Ist es doch, wie internationale Vergleiche zeigen, der deutliche Effekt des gegliederten Systems, unten zu halten, was unten ist und diejenigen zu privilegieren, die schon bevorzugt sind. Fast 90 Prozent der rund 500.000 Schüler mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ gehören zur untersten sozialen Schicht. Wenn Eltern sich für ihre behinderten Kinder effektiv „nach oben“ klagen, könnte das Konsequenzen nicht nur für Sonderschulen, sondern auch für die Hauptschulen haben. Denn auch dort werden vorwiegend Kinder des „Prekariats“ einer schulischen Sonderbehandlung unterzogen, die bekanntlich überaus häufig ins Abseits führt. Ein Recht auf Bildung als Menschenrecht sieht anders aus. Da müsste man schon verlangen können, nach den neuesten Erkenntnissen der Schulpädagogik gefördert zu werden und nicht mit Verfahrensweisen aus dem 19. Jahrhundert.Auf dem parkähnlichen Gelände der Integrativen Waldorfschule rund um das Schulgebäude machen junge Leute Pause. Keine schrille Schulglocke scheucht sie herum, kein Raufen und Gezanke, keine Gehässigkeiten zwischen Gymnasiasten und den Insassen einer „Dubelschule“, wie im Südbadischen traditionell Hilfsschulen genannt werden. Hier gibt es keine Dubel oder Deppen, sondern nur Individuen. Ein Oberstufenschüler unterhält sich mit einem Jungen, der sich nur mit Mühe artikulieren kann. Für Außenstehende ist schwer nachvollziehbar, wie diese Kommunikation vonstatten geht. Aber die beiden verstehen sich, denn wie das geht, haben sie in vielen Jahren des Miteinanders ganz offensichtlich gelernt.
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