Auch die Japaner waren schon fünf Meter groß

Im Umbruch Willy Wimmer (CDU) über Erosionen in der Koalition der Mutwilligen und das außenpolitische Umdenken in seiner Partei

FREITAG: Sollte die NATO durch eine konzertierte Aktion die Amerikaner aus ihrer prekären Lage im Irak befreien?
WILLY WIMMER: Ich habe große Zweifel daran, ob die Amerikaner ihre Lage als prekär empfinden. Sie haben diesen Krieg aus den bekannten Motiven heraus gewagt und gewollt. Daher gehe ich - auch angesichts der globalen Dimension des Konflikts - davon aus, dass sie bereit sind, für ihre Interessen noch wesentlich höhere Opfer zu ertragen, als das bisher der Fall war.

Dennoch könnte Entlastung willkommen sein. Rechnen Sie nicht damit, dass die USA dieses Thema beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Istanbul anschneiden?
Das lässt sich kaum übersehen. Wir erleben ja im Augenblick, wie aus der Koalition der Mutwilligen zusehends eine Koalition der Unwilligen wird. Das dürfte europäische Regierungen kaum dazu ermuntern, weitere militärische Reparaturtrupps in den Irak zu schicken. Und die bekannt gewordenen Misshandlungen irakischer Gefangener durch amerikanische und britische Soldaten wie auch die öffentlichen Äußerungen Kofi Annans zu einer UN-Resolution vor dem 30. Juni werden ein Übriges tun.

Ich habe Zweifel daran, ob die Amerikaner ihre Lage als prekär empfinden

Sie haben jüngst die Beratungsresistenz in Washington beklagt. Angenommen, die ließe nach - wozu würden Sie der US-Regierung raten im Moment?
Wieder den Weg des Ausgleichs einzuschlagen. Wieder berechenbare transatlantische Beziehungen herzustellen. Wieder im Verhältnis zu Indien, zu China oder zu Russland auf Kooperation zu setzen. Wir bekommen keine globale Sicherheit, wenn nationale Interessen nicht innerhalb der multilateralen Einrichtungen, die wir dafür haben, abgeglichen werden. Der Einschnitt, um den Weg des Ausbalancierens von Interessen zu verlassen, war der Jugoslawien-Krieg 1999.

Tut die Bundesregierung außenpolitisch genug, damit man auf diesen Weg zurück findet?
Wir haben es mit zwei Phänomenen zu tun. Auf der einen Seite hält es Präsident Bush mit der Vorsehung - das ist für das Selbstverständnis derjenigen, die sich mit den USA traditionell verbündet fühlen, eine Schraubendrehung zuviel. Gleichzeitig haben wir einen deutschen Kanzler, der sich - was den Umgang mit den Amerikanern angeht - auch gelegentlich neben den Teppich stellt.

Wie meinen Sie das?
Ich kann nicht die Vereinten Nationen, das Völkerrecht und den Sicherheitsrat als das Maß aller Dinge - zu Recht - empfinden und dann der Welt mitteilen, dass man unter keinen Umständen seinen Pflichten aus der globalen Rechtsordnung als dem Anker einer friedlichen Entwicklung nachkommen will. Das hat Schröder getan. Ich habe auch jetzt die Sorge, dass man sich nur mit den offenkundigen Dingen beschäftigt, aber die dahinter liegenden Kernfragen ignoriert.

Die wären?
Ich muss dazu etwas ausholen. Es kam vor, dass Helmut Kohl Anfang der neunziger Jahre nach USA-Reisen in die CDU/CSU-Fraktion kam und sagte, mir begegnet da auf dem Capitol eine Stimmung, bei den Senatoren wie bei der Regierung, die besagt: Der Dritte Weltkrieg ist beendet, und wir haben ihn gewonnen. Und er machte kein Hehl aus seiner Meinung, dass man mit dieser Art von Selbstverständnis die Russen schwer brüskieren werde. Aber dieses Selbstverständnis sollte bald den Umgang der Amerikaner mit der ganzen Welt bestimmen.

Niemand bestreitet, dass wir international gewaltige Probleme haben, womit ich nicht nur den Terrorismus, die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen oder die Armut meine. Was am meisten bekümmert, ist der Umstand, das diejenigen, die sich dieser Probleme anzunehmen hätten, die ganze Welt NATO-kompatibel machen wollen. Wie haben wir in den achtziger Jahren Konflikte gelöst? Indem wir die KSZE, später die OSZE, die NATO, die EU, den Warschauer Pakt und die Vereinten Nationen dafür genutzt haben. Wenn es nicht möglich gewesen wäre, Verhandlungswege zu beschreiten - und zwar erfolgreich -, säßen wir heute nicht hier. Aber seit Anfang der neunziger Jahre wird das alles beiseite geschoben, weil in Washington Leute sitzen, die das NATO-Raster über die ganze Welt legen - egal, ob die das erträgt oder nicht. Aber die Welt ist größer, als die NATO je sein wird.

Woher sollen die Triebkräfte für eine Rückkehr zur einstigen Vertragspolitik denn kommen?
Man muss sich regierungsseitig darum bemühen. Wenn nicht - dann wird sich Falludscha möglicherweise bald nicht mehr von Grosny unterscheiden. Im Irak werden Verheerungen ausgelöst, von denen die Psyche der Menschen überall auf der Welt tangiert wird, weil dort Krieg gegen ein Volk geführt wird. Daraus müssen doch Schlüsse gezogen werden. Was gedenkt die internationale Gemeinschaft zu tun, damit die USA und Großbritannien wieder Politik mit Augenmaß betreiben - das ist die alles entscheidende Frage ...

... und klingt wie ein frommer Wunsch.
Ich vertraue der Kraft des Beispiels, dass es funktionieren kann. Die Volksrepublik China geht beim Thema Nordkorea mit den USA, Japan und Russland den Weg von Verhandlungen, die erfolgreich sind. Das heißt, in einer Zeit, in der man im Irak die Städte zusammenbombt, kann sich jeder davon überzeugen, wie sich Konflikte auch ohne Gewalt eindämmen lassen.

Wenn Sie auf Konsenspolitik der UNO setzen, wie bewerten Sie dann die jüngsten Verhandlungen von Lakhdar Brahimi, des UN-Irak-Gesandten, mit der US-Zivilverwaltung in Bagdad? Dabei wurde akzeptiert, dass die ab 30. Juni installierte Übergangsregierung keine Gesetzesgebungskompetenz haben soll und bei Militäroperationen der Amerikaner nicht konsultiert wird. Sollte sich die UNO engagieren, um derart vorgeführt zu werden?
Es darf für die Vereinten Nationen nur eine Maxime geben: Sie müssen den Irak in die Lage versetzen, über sein Schicksal selbst entscheiden zu können. Wenn das nicht geschieht, wird sich wiederholen, was wir schon erlebt haben. Nach dem Jugoslawien-Krieg von 1999 erhielten wir ein NATO-Protektorat im Kosovo. Was uns nach dem 30. Juni 2004 winkt, wird ein US-Protektorat im Irak sein. Ähnlich wie in Afghanistan. Nur löst man mit Protektoraten keine Konflikte, sondern verlagert sie in die Zukunft.

Also sollte Brahimi besser wieder aussteigen?
Sein Einstieg kann nur sinnvoll sein, wenn er beim ersten Schritt - den Gesprächen über eine Übergangsregierung - schon an den zehnten denkt. Im Augenblick muss die UNO einfach versuchen, wieder einen Fuß in die Tür zu stellen.

Das ist wenig angesichts der Zustände im Irak.
Aber nur so kann man zu einer Verhandlungspolitik zurückkehren.

Klingt da vorsichtiger Optimismus an?
Eher Skepsis, weil die Amerikaner genau wissen, was sie seit zehn Jahren tun. Ich denke - und das ist ein Urteil, das ich in Berlin mit anderen teile -, dass sich Bush und Kerry vielleicht in Nuancen unterscheiden, in mehr nicht. Clinton war auch nicht anders, wenn es galt, rein amerikanische Interessen durchzusetzen.

Abstrahiert man von den Eigenheiten im Persönlichkeitsprofil von George Bush, die Sie mit dem Glauben an die Vorsehung in Verbindung bringen, dann fällt das vehemente geostrategische Interesse der USA ins Auge, dauerhaft im Nahen Osten präsent zu sein und den Ländern der Region zu sagen: Entweder ihr arrangiert euch damit oder wir werden euch dazu zwingen. Liegt es in der Logik dieses Ansatzes, wenn sich Bush wie jüngst geschehen vorbehaltlos hinter Sharon stellt und die Araber damit gezielt brüskiert?
Amerikaner und Briten haben mit dem Ende des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg schon einmal versucht, ausgehend vom Irak die neue angelsächsische Weltordnung zu errichten. Das Handlungsmuster war das gleiche wie heute: Man nutzte das Ende eines globalen Konflikts wie jetzt das Ende des Kalten Krieges, um sich in der Region festzusetzen. Das ist vor 80 Jahren gescheitert. Heute besteht die Gefahr, dass sich ein Volkskrieg im Irak massiert und zur Vorstufe eines großen schiitischen Imperiums wird - von der pakistanisch-iranischen Grenze bis zu den saudischen Ölgebieten. Wenn das auf uns zukommt, steht ein schiitisches Reich einer israelischen Nuklearmacht gegenüber - mehr muss man dazu nicht sagen. Als die Amerikaner in den Irak hineingegangen sind, haben sie in diesem Raum unwiderruflich die Büchse der Pandora geöffnet.

Sind diese Gefahren ein Grund dafür, dass sich auch in Ihrer Partei - von Ihrem Kandidaten für die Bundespräsidentschaft bis hin zu Ihrem Fraktionskollegen Friedbert Pflüger - Amerika kritische Stimmen häufen?
Es gibt ja in der CDU eine traditionelle Grundhaltung, wonach den Beziehungen zu den USA Vorrang eingeräumt wird - das ist Punkt eins. Punkt zwei besagt: Man muss den Amerikanern gegenüber immer gesprächsfähig sein. Helmut Kohl hat es glänzend verstanden, die europäischen und deutschen Interessen so zu vertreten, dass dadurch nie der Gesprächfaden zu Präsident Clinton gerissen ist. Das hängt mit der Frage zusammen, wie sage ich was, wenn ich in einer Partnerschaft der kleinere Partner bin. Und das Dritte: Es kann niemand mehr ernsthaft bestreiten, wie wir betrogen worden sind - siehe Saddams Massenvernichtungswaffen. Manch einer bei uns, der mit geschwellter Brust auf dem Feldherrenhügel stand, sitzt inzwischen bleich und übelriechend in den Dünen.

Clinton war nicht anders, wenn es galt, amerikanische Interessen durchzusetzen

Was antworten Sie denen, die der CDU im Europa-Wahlkampf vorwerfen, wenn Anfang 2003 Angela Merkel Bundeskanzlerin gewesen wäre, stünden jetzt deutsche Soldaten im Irak?
Das ist natürlich Wahlkampfgeklimper ...

... aber damit hat Gerhard Schröder - zumindest teilweise - die letzte Bundestagwahl gewonnen.
Richtig. Andererseits wäre der Irak-Krieg ohne die vorzügliche Unterstützung dieses Bundeskanzlers, was das Bereitstellen deutschen Hoheitsgebietes anging - inklusive des Schutzes von US-Einrichtungen durch die Bundeswehr -, für die Amerikaner so nicht möglich gewesen. Seit die Sozialdemokraten 1998 an die Regierung gekommen sind, stehen sie in einer interessanten Kriegstradition - wir waren als Regierungspartei in einer interessanten Friedenstradition. Wer dann mit Hypothesen kommt, wie Sie das gerade andeuten, zeigt deutlich, dass er keine anderen Argumente hat.

Warum geht dann die CDU nicht in Ihrem Sinne in die außenpolitische Offensive?
Was wir in unseren Reihen erleben, ist aus meiner Sicht eine Indikation für einen größeren Umbruch ...

... einen Umbruch in Ihrer Partei?
Ja, ja. Bei uns wird von vielen der Jugoslawien-Krieg als Einstieg in das gesehen, was mit dem Irak folgte. Mir hat der von Ihnen vorhin genannte Fraktions-Kollege gesagt, wenn Helmut Kohl noch Kanzler gewesen wäre, hätte es weder den einen noch den anderen Krieg gegeben. Eine aufschlussreiche Erkenntnis gerade bei diesem Kollegen. Wenn sich eine Partei nicht aus der politischen Wirklichkeit heraus katapultieren will, muss sie hören, was 90 Prozent der Deutschen sagen.

Manch einer in der amerikanischen Regierung glaubt momentan, fünf Meter groß zu sein. Solche Perioden gab es bei uns auch, die Japaner waren ebenfalls schon einmal fünf Meter groß oder die Sowjets. Nur können wir nicht das geringste Interesse daran haben, dass die Selbsterkenntnis der Amerikaner, doch nicht fünf Meter groß zu sein, für uns alle schmerzlich wird.

Wenn Sie Indikationen für ein Umdenken in Ihrer Partei ansprechen, das dazu führt, nicht die ganze Welt zum Einzugsgebiet der NATO zu erklären, was hieße das für den Umgang mit der Out-of-Area-Doktrin dieser NATO, wie sie 1999 auf deren Washingtoner Gipfel beschlossen wurde? Diese Doktrin hat sich als nicht sehr hilfreich erwiesen, um die Welt sicherer zu machen.
Das ist richtig. Wir sind in einer Situation schmerzhafter Erkenntnisse. Wenn man zu diesem Zeitpunkt, von dem Sie sprechen, gewusst hätte, was heute übereinstimmend als Konsequenz gesehen wird, wäre man vermutlich viele Schritte nicht mit gegangen. Nur hielt es wohl auch bei uns keiner für möglich, dass die Amerikaner einfach nicht mehr zuhören. Ich kann mich an Debatten in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE erinnern. Wenn wir dort versucht haben, den Begriff "soziale Marktwirtschaft" in die Dokumente zu bringen, sind wir von den Angelsachsen als Kommunisten bezeichnet worden.

Wir verfügen heute buchstäblich über keine internationale Organisation mehr, die in den vergangenen Jahren nicht beschädigt worden wäre. Alle sind in einer tiefen Krise. Insofern müsste man doch begreifen: Ohne Zusammenarbeit der großen Staaten untereinander geht es nicht. Die Chinesen beweisen jeden Tag, was ein konstruktiver Umgang miteinander bringt, obwohl sie in einer höchst windigen Wetterecke unseres Planeten leben.

Wenn ich Sie richtig verstehe, plädieren Sie für eine grundlegende Reorganisation der transatlantischen Beziehungen.
Im Prinzip schon. Es hindert doch niemand einen amerikanischen Präsidenten oder einen chinesischen Generalsekretär oder einen EU-Kommissionspräsidenten daran, uns zu sagen, die Welt schüttelt sich im Augenblick, aber bevor sie explodiert, wollen wir die Verantwortung wieder so wahrnehmen, wie das im Kalten Krieg der Fall war.

Möglicherweise nehmen wir nicht zur Kenntnis, dass die USA, wenn sie ihre Muskeln zeigen, aus einem Gefühl der Schwäche heraus handeln. Sie wollen nicht auf ihren Zustand als Insel zurückgeworfen werden, folglich versuchen sie, sich um die potenziellen Rivalen herum zu verankern. Niemand sollte ein Interesse daran haben, dass sie diesen Weg bis zu Ende gehen.

Das Gespräch führte Lutz Herden


Mahnende Stimme

Der Sicherheitsexperte Willy Wimmer gehörte im März 2003 zu den vehementesten Kritikern des Angriffs der USA und ihrer Alliierten auf den Irak. Als er seinerzeit in einem Freitag-Interview vor einer Weltordnung warnte, "die keinerlei Strukturen mehr hat", war dies - gemessen am Meinungsbild in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - die Stimme eines Außenseiters. Das änderte sich erst in den vergangenen Wochen, als immer deutlicher wurde, welche Risiken die Besetzung des Irak und der davon ausgelöste Widerstand für den Westen insgesamt heraufbeschwören. Wimmer - von 1988 bis 1992 Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE - plädiert daher für eine Rückkehr zu jener Vertragspolitik, wie sie bis 1989/90 einen Krieg zwischen Ost und West verhindern half.


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